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dete. Ich machte Pause und fragte dann: ‚Sie sprechen aus Leningrad?‘ Die Ant-
wort: ‚Nein, aus Schwechat, vom Flugplatz. Ich bin hier mit einem Koffer und
bleibe im Westen.‘“168 Der spätere Nobelpreisträger Joseph Brodsky, dem bereits
in den 1960er Jahren aufgrund seiner metaphysischen Lyrik in Moskau der Pro-
zess wegen „Parasitentums“ gemacht worden war, wird auf einer Pressekonfe-
renz in den Räumen der ÖGL erstmals dem Westen persönlich vorgestellt.169
Wien als Brücke zwischen Ost und West war hier jedoch nur Zwischenstation,
bevor Brodsky über München in die Vereinigten Staaten emigrierte.170
Auch den Leningrader Literaturwissenschaftler Efim Etkind, der beim Pro-
zess gegen Brodsky 1964 als Zeuge der Verteidigung ausgesagt hatte, nahm Kraus
nach dessen „ungewollte[r] Emigration 1974 am Flughafen Schwechat in Emp-
fang“ und beherbergte ihn „ein paar Monate in Wien“.171 Etkind, der am Alexan-
der-Herzen-Institut in Leningrad Komparatistik gelehrt hatte, organisierte die
Herausgabe der Anthologie Vpervye na russkom jazyke, in der erste Werke von
Brodsky erschienen waren, darunter seine Übersetzungen der Lyrik von Gałc-
zyński und John Donne.172
Am 25.
April 1974 war Etkind ein „Fall der verhärteten sowjetischen Kultur-
politik“ geworden,173 er verlor seine Stellung als Professor sowie seine Mitglied-
schaft im Sowjetischen Schriftstellerverband. Etkind wurde „wirklich präzedenz-
los behandelt“, so Lew Kopelew im einem Brief an Heinrich Böll: „Nicht mal zu
Stalins Zeiten wurden wissenschaftliche Grade und Ränge einem entzogen.“174
Etkind schrieb einen Brief an seine Freunde und Bekannten im Westen und bat,
seinen Fall an die Medien weiterzuleiten:
By this evening I have suddenly been robbed of everything. I can no longer teach
or publish. […] I am faced by the most terrible thing that can happen to a scholar
and writer: to be silenced. Silenced – that is, pronounced dead as a citizen. I write
this letter while I listen tensely to footsteps on the stairs, and hasten to close it
before I am disturbed. After the loss of my work, titles, and publishing possibili-
ties, I can expect to be deprived any minute of my physical freedom: that is the only
thing I have left.175
168 Wolfgang Kraus: Im Westen mit russischen Augen, ms. Ts. 3 Bl., NL WK.
169 Vgl. Hingst: Brodskij als Gast in der Literaturgesellschaft. In: Arbeiter-Zeitung, 15.
Juni 1972, S. 10.
170 Vgl. Lev Loseff: Joseph Brodsky. A literary Life. New Haven, London: Yale Univ. Press 2011, S. 168
f.
171 Wolfgang Kraus an Alois Mock, 28. März 1993, NL WK.
172 Laß: Vom Tauwetter zur Perestroika, S. 180.
173 Wolfgang Kasack: Verhärtete sowjetische Kulturpolitik. In: Neue Zürcher Zeitung, 14. Mai
1974.
174 Zylla (Hg.): Heinrich Böll – Lew Kopelew Briefwechsel, S. 267.
175 Übersetzung eines Briefes von Efim Etkind, versandt von Gerard Kruisman, 25. April 1974,
ÖGL-Archiv.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
392 Kontaktperson, Vermittler, Dolmetscher
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437