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Forschungsleitende Hypothesen
Den beiden aufeinander bezogenen Thesen sei an dieser Stelle , in loser Anlehnung an
die von Oliver Rathkolb präsentierten Längsschnitte zur „paradoxen Republik“,41 noch
eine paradoxale Vermutung hinzugefügt : Dass nach der machtpolitisch-militärischen
Überformung der avancierten Reorientierungs-Konzepte in Richtung antikommunisti-
scher Propaganda im Zusammenhang mit der Politik des „Containment“ und „Roll-Back“
letztlich
– neben der Marshallplan-Wirtschaftshilfe
– die Verbreitung US-amerikanischer
Populärkultur langfristig betrachtet womöglich den nachhaltigsten Demokratisierungsef-
fekt hatte , scheint auf den ersten Blick eine paradoxe Pointe zu sein. Das Arsenal der po-
pulärkulturellen Hervorbringungen des „Amerikanismus“ schuf insbesondere für jugend-
liche Identitätsfindungsprozesse nach 1945 Möglichkeiten einer demonstrativen Abkehr
von konservativ-autoritären Lebensentwürfen
– immerhin bildete der Antiamerikanismus
ein konstitutives Element der autoritär-antidemokratischen Kräfte vor 1945. Über diesen
Umweg mag es zu einer allmählichen , katalytischen Ablöse der nachfolgenden Genera-
tionen von provinziellen , konservativ-traditionalistischen Diskurs- und Reflexionsmus-
tern gekommen sein. Faktum ist jedenfalls , dass diese ziemlich lange Bestand hatten und ,
gleichsam phasenverschoben , erst vergleichsweise spät zu erodieren begannen :
„Eine in den ersten Nachkriegsjahrzehnten höchst gehorsame , konfliktscheue Gesellschaft mit
extrem autoritären Einstellungen in wichtigen gesellschaftlichen Fragen verzeichnete seit den
1970er-Jahren hier einen langsamen Wandel.“42
De facto spräche die hier vermutete Wirksamkeit und Funktion einer gewissen gesell-
schaftlichen Modernisierung und Öffnung bereits durch bloße Prozesse der „Amerika-
nisierung“ und „Westernisierung“ jedenfalls für die demokratiepolitisch hochgradig mo-
tivierten Konstrukteure der US-Reorientierung. Unbeantwortet bleibt aber insbesondere
im Kontext des universitären Wiederaufbaues die Frage , um wie viel effizienter und nach-
haltiger die geistige Öffnung und Demokratisierung in Österreich nach 1945 womöglich
verlaufen wäre , hätten die amerikanischen Reorientierungs-Maßnahmen während der Be-
satzungszeit einer „autochthonen Provinzialisierung“43 oder „geistigen Stagnation“44 erst
gar keine Chance gegeben.
41 Rathkolb präsentiert insgesamt 10 Längschnitte zu zentralen Bereichen der „politischen Kultur und Demo-
kratieentwicklung“ in Österreich , wobei die akademisch-universitäre beziehungsweise wissenschaftliche Nach-
kriegsentwicklung allerdings nur kurz gestreift wird. Vgl. Rathkolb , Die paradoxe Republik , a. a. O., 415 ff.
42 Ebd., 416.
43 Vgl. Christian Fleck , Autochthone Provinzialisierung. Universität und Wissenschaftspolitik nach dem Ende
der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich. In : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaf-
ten , 7. Jg., 1996 , Heft 1 , 67 ff.
44 Fritz Fellner , Restauration oder Fortschritt. Hochschulprobleme aus der Sicht des Historikers. In : Heinz
Fischer ( Hrsg. ), Versäumnisse und Chancen. Beiträge zur Hochschulfrage in Österreich , Wien
– Hannover
1967 , 12. Für den Literaturhinweis danke ich Kollegen Dr. Stephan Ganglbauer.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741