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1. Images , Stereotype und Vorurteile
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Bis Anfang des 20. Jahrhunderts waren die in Europa zirkulierenden Vorstellungen von
der „Neuen Welt“ grosso modo von exotischer Distanz zum Gegenstand geprägt : hier
trafen sich die Faszination an „Art und Sitten der Wilden“,55 die Bewunderung der offen-
kundig enormen Reichtümer dieses weit entfernt liegenden Kontinents , Projektionen einer
apostrophierten grenzenlosen Freiheit des Schmelztiegels Amerika56 – das in den folgen-
den Jahren und Jahrzehnten für viele Millionen sozial deklassierter europäischer Emig-
ranten dann zum Land der Hoffnung auf unbegrenzte Möglichkeiten wurde – sowie die
Angst feudal-reaktionärer Gesellschaftskreise vor einer plebejischen Massendemokratie
auf Grundlage eines materiellen Individualismus ; letztere verdichtete sich ab der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts allerdings zu einem Schreckensszenario , das das „alte Kno-
chengerüst Europas“ ( Antonio Gramsci )57 bereits nachhaltig erschütterte. Die lange Zeit
überwiegenden ahistorischen58 Vorstellungen eines weit entfernt liegenden , buchstäblich
55 Die ersten Schilderungen und exotischen Bildansichten auf die „Wilden“ der Neuen Welt publizierte Theo-
dor de Bry in seinem 1590 erschienen Buch „Erstaunliche , aber wahrheitsgetreue Beschreibung der Art und
Sitten der Wilden in Virginia“. Siehe : Gerhard E. Sollbach , Amerika 1590. Europas erste Bilder von der
Neuen Welt , Kettwig 1992 , X. Siehe dazu auch : Ray Allen Billington , Land of Savagery , Land of Promise.
The European Image of the American Frontier , New York – London 1981. Wie Rob Kroes verdeutlicht ,
finden sich auch bereits bei William Shakespeare bspw. in der Figur des „schwarzen“ Caliban ( vis à vis Pro-
spero ) in „Der Sturm“ die tiefsitzenden europäischen Ängste vor dem diabolisch Fremden , Unzivilisierten
und Wilden im Hinblick auf Amerika klar thematisiert. So meint Kroes : „The Tempest is an early example
of European fantasies about America after its discovery. It displays a rejection of America and Americans as
diametrically opposed to civilization and culture – a rejection that would continue for centuries , even long
after ‚the American‘ was no longer an Indian savage but a transplanted European.“ Kroes , If you’ve seen one ,
you’ve seen the mall , a. a. O., 6.
56 Ein literarisches Zeugnis der Faszinationskraft Amerikas als „Land der Freiheit und Erlösung“ zu Beginn
des 20. Jahrhunderts findet sich unter anderen in Hermann Brochs „Esch oder die Anarchie“, dem zweiten
Teil seines Romans „Die Schlafwandler“, worin der Hauptprotagonist davon träumt , endlich der „Alten
Welt ein Valet zu[ zu ]rufen , auf Nimmerwiedersehen.“ „Esch sah die Freiheitsstatue vor sich , deren Fackel
all das verbrennt und erlöst , was herüben zurückgelassen wird , alles Gewesene und alles Tote dem Feuer
überantwortet ,
– und wenn dies Mord ist , so ist es einer , über den die Polizei nicht mehr richten darf.“ Zit.
nach : Hermann Broch , Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie (= Kommentierte Werkausgabe. Hrsg. v.
Paul Michael Lützeler , Bd. 1 ), Frankfurt a. Main 1994 , 291.
57 Antonio Gramsci , Amerikanismus und Fordismus [ §§ 1–16 ]. In : Antonio Gramsci , Gefängnishefte. Hefte 22
bis 29. Bd. 9. Hrsg. v. Peter Jehle , Klaus Bochmann , Wolfgang Fritz Haug , Berlin 1999 , 2070 ; weiters : Rein-
hold Wagnleitner , Coca-Colonisation und Kalter Krieg. Die Kulturmission der USA in Österreich nach dem
Zweiten Weltkrieg (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik , Bd. 52 ), Wien 1991 , a. a. O., 22.
58 Auf den dominierenden „unhistorischen Dilettantismus“ der deutschen Literatur über Amerika verweist
interessanterweise der Hauptprotagonist in Ferdinand Kürnbergers Roman „Der Amerikamüde“; bezeich-
nenderweise hat Kürnberger selbst Amerika nie bereist. „Bücher , von einem liebenswürdigen , aber un-
historischen Dilettantismus geschrieben , sprachen von Amerika so , wie man ungefähr am winterlichen
Kamin von Nizza , Meran und vom Comersee spricht ; gleichsam als wäre das soziale Leiden Europas
mädchenhafte Schwindsuchtpoesie. So schrieben Racknitz und Scherpf über Texas , Bromme über Florida ,
Duden über Missouri , Gerke über Illinois [ … ]. Noch mehr aber als durch die belletristische Ornamentik
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741