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Das Bild Amerikas aus europäischer Sicht bis Anfang der 1930er-Jahre
avanciertes wissenschaftliches Niveau erreicht , das insbesondere im Bereich technischer Stu-
dien und Labors die europäischen Einrichtungen weit überragte ;183 im Bereich der Sozial-
wissenschaften spielten durch die führende Rolle der „Chicago School“ in der Grundlegung
dieser neuen akademischen Disziplin ab 1892 bereits einzelne Frauen wie Jane Addams eine
bedeutende Rolle.184 Zu einem verstärkten Interesse an Amerika seitens deutscher Univer-
sitäten kam es aber erst
– nach dem unabweisbaren Erfolg der US-amerikanischen Univer-
sitäten
– in den Zwanzigerjahren durch den Beginn von Studentenaustauschprogrammen.185
Entgegen dem allgemeinen Trend zum Antiamerikanismus innerhalb der kontinentalen
Bildungselite wurden einzelne Facetten des amerikanischen Bildungssystems unter euro-
päischen Bildungsexperten und Bildungsreformern bis Ende der Zwanzigerjahre geradezu
in den höchsten Tönen gelobt und in vielerlei Hinsicht als vorbildlich angesehen. Beson-
ders hervorgehoben wurde dabei , dass das US-Bildungssystem vom Kindergarten bis zur
Universität vergleichsweise barrierefrei186 und somit für jedermann zu jeder Zeit zugäng-
lich wäre ;187 auch dessen dezentrale Organisation und der vergleichsweise geringe Grad an
Bürokratie188 sowie
– im Unterschied zu den europäischen Bildungssystemen
– die zentra-
le Rolle , die der sozialen Bildung ( „citizenship“ ) beigemessen würde ,189 fand Anerkennung.
183 Stefan Paulus , Amerikanisierung von Universität und Wissenschaft in Westdeutschland 1945–1976 (= Stu-
dien zur Zeitgeschichte. Hrsg. v. Institut für Zeitgeschichte , Bd. 81 ), München 2011 , 62 ff. Die gleichrangige
bzw. ebenbürtige Rolle von Frauen an amerikanischen Universitäten jener Zeit unterstrich auch der öster-
reichische Physiker Ludwig Boltzmann , der anlässlich seiner Reise nach Kalifornien im Jahr 1905 , wo er u. a.
an Universitäten Berkeley und Stanford Vorträge hielt , feststellte : „Daß an solchen Universitäten das männ-
liche und weibliche Element unter den Studenten und im Lehrkörper gleichberechtigt ist , versteht sich von
selbst [ … ] Alle Räume der Universität wimmeln von Damen , die an der Zahl den männlichen Studenten
nicht viel nachstehen dürften.“ Ludwig Boltzmann , Reise eines deutschen Professors ins Eldorado. Nach
der Ausgabe der Populären Schriften , 1905. Herausgegeben und mit einem Personenregister versehen von
Gabriele Dörflinger (= Heidelberger Texte zur Mathematikgeschichte ), Heidelberg 2005 , 15.
184 Vgl. Martin Bulmer , The Chicago School of Sociology. Institutionalization , diversity , and the rise of
sociological research , Chicago et al. 1984 ; Mary Joe Deegan , Jane Addams and the Men of the Chicago
School 1982–1918 , New Brunswick 1988.
185 So z. B. durch die Gründung des „Deutschen Akademischen Austauschdienstes“ ( DAAD ). Siehe : Paulus ,
Amerikanisierung von Universität und Wissenschaft in Westdeutschland , a. a. O., 87 f.
186 So wurde bspw. Frauen seit 1885 sukzessive der Zugang zu amerikanischen Universitäten ermöglicht.
Siehe : Barbara Salomon , In the Company of Educated Women. A History of Women and Higher Ed-
ucation in America , New Haven 1985. Zit. nach : Füssl , Deutsch-Amerikanischer Kulturaustausch im
20. Jahrhundert , a. a. O., 41.
187 Siehe : Georg Kartzke , Das Amerikanische Schulwesen , Leipzig 1928 , 191 ff. ; Walter Lietzmann , Un-
terschiede zwischen amerikanischem und deutschem Schulwesen. In : Die Erziehung , Bd. VI , Leipzig
1930–31 , 17–18.
188 Vgl. Maurice M. Caullery , Universities and Scientific Life in the United States , Cambridge 1922 , 237 f. ;
Reinhold Löwenthal , Das Schulwesen in den Vereinigten Staaten Amerikas. In : Die Quelle , LXXXIII ,
Wien 1933 , 629 ff.
189 Vgl. H. Loiseau , L’Education Sociale en Amérique. In : Revue Universitaire , XXXIV , Paris 1925 , 228 ;
weiters : Peter A. Silbermann , Aus New Yorks höheren Schulen , Berlin 1927 ; Sebald Schwarz , Amerika
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741