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„Our Country’s Call to Service“
tischen Öffentlichkeit.593 Deren Verbreitung führte den britisch-jüdischen Verleger Victor
Gollanz dazu , eine Gegenschrift zu publizieren , in der er , nach einer kurzen Analyse der
jüngeren deutschen Geschichte , pointiert gegen jede Form von Revanchismus und hasser-
füllter Moralisierung Stellung bezog und für eine „Versachlichung“ des Diskurses rund um
den angeblich grundsätzlich aggressiven „German Character“ eintrat.594
Eine weitere Ähnlichkeit zur Situation in den USA liegt darin , dass die totale Mobi-
lisierung der britischen Gesellschaft angesichts des nationalsozialistischen Vernichtungs-
krieges ebenfalls zu einer edukativen Selbstvergewisserung führte , die mit dem „Education
Act 1944“595 bereits während des Krieges in eine Reform des traditionell elitären und stark
klassenspezifischen Bildungssystems mündete und besonderes Augenmerk auf die Garan-
tie demokratischer Chancengleichheit legte.596
Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten und Großbritannien hatte Frankreich kaum
Zeit und Gelegenheit , vor Kriegsende über die Ziele oder die konkrete Form einer fran-
zösischen Besatzungspolitik nachzudenken.597 Das betrifft auch Fragen des bildungs- und
kulturbezogenen Wiederaufbaues , obwohl erste Überlegungen einer „Reeducation“ ver-
einzelt bereits 1943 im algerischen Exil angestellt wurden.598 Was die Kriegsplanungen
593 Pakschies , Re-education und die Vorbereitung der britischen Bildungspolitik in Deutschland während des
Zweiten Weltkriegs , a. a. O., 107.
594 In Anerkennung der Notwendigkeit einer strikten internationalen Kontrolle der militärischen Abrüstung
nach Kriegsende , sah Gollanz ( 1893–1967 )
– im entschiedenen Gegensatz zu der in der Atlantik-Charta
angepeilten „restaurativen Liberalisierung“ – einzig in einer fundamentalen gesellschaftlichen Neuord-
nung Deutschlands auf Basis einer von innen kommenden , sozialistischen Revolution die Garantie für
eine dauerhafte Friedenslösung gegeben : „Unless the German people themselves overthrow their milita-
rists , junkers and industrialists by means of a democratic ( which in the twentieth century must be a soci-
alist ) revolution , the terrible lessons of the past will be repeated. The whole of the German history proves
that the German people will win freedom only if they win it FOR THEMSELVES by the conquest of
power. It cannot be won for them or ‚granted‘ to them. And their winning of it is the condition for a ge-
nuine , solidly based , liberalizing of Germany.“ Victor Gollanz , Shall our Children Live or Die ? A Reply
to Lord Vansittart in The German Problem , London 1942 , 33.
595 Darin heißt es : „In the 1944 Education Act we have a more comprehensive and systematised program of
education than in any previous Act. At last we have the idea being developed that there is ‚a public duty
to provide and finance a comprehensive system of education‘.“ The Education Act 1944. With explanatory
notes by Alfred E. Ikin , London 1944 , XIV.
596 Der „Education Act“ war beeinflusst von einem Reformpapier , das der Historiker Arnold Toynbee im
Auftrag des August 1940 eingerichteten War Aims Committee 1941 verfasst hatte , worin er hinsichtlich
einer zu schaffenden „Neuen Ordnung“ für das Nachkriegseuropa insbesondere auch die Demokratisie-
rung des rückständigen britischen Erziehungssystems forderte. Vgl. Koszyk , „Umerziehung“ der Deut-
schen aus britischer Sicht , a. a. O., 4.
597 Vgl. Rene Cheval , Die Bildungspolitik in der Französischen Besatzungszone. In : Heinemann , Umerzie-
hung und Wiederaufbau , a. a. O., 190 ff. ; sowie Jerome Vaillant , Was tun mit Deutschland ? Die franzö-
sische Kulturpolitik im besetzten Deutschland von 1945 bis 1949. In : Ebd., 205 ff.
598 Helen Liddell , Education in Occupied Germany : A Field Study. In : International Affairs , 1948 , 40.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741