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2. „Education for Victory“
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rigen machten „Verräter“ an der Niederlage schuldig [ 30 Prozent der über 30-Jährigen ].1015
Des Weiteren sah die Mehrzahl der Befragten weiterhin in den Juden die Ursache für
Deutschlands Probleme , selbst unter den ausgewählten Anti-Nazis im POW Camp Fort
Eustis beschuldigten zehn Prozent der Befragten die Juden , für Deutschlands Misere ver-
antwortlich zu sein.1016
Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse sowie im Hinblick auf die skizzierte Planung
und konkrete Durchführung der POW-Reeducation , die sowohl abseits der sonstigen mi-
litärischen Planungszenarien für die Nachkriegszeit sowie insbesondere ohne Kontakt zu
allen zivilen Gremien und Initiativen ablief , ist dieses Lager-Experiment als vollständig
gescheitert anzusehen.
Interessanterweise erschien bereits 1946 in Berlin ein von Margret Boveri1017 verfasstes
anti-amerikanisches Pamphlet , worin die Autorin die amerikanische „Hollerith-Kultur“1018
der gesellschaftlichen Standardisierung und Normierung just im Zusammenhang mit der
NS-Registrierung und den von George Horst Gallup entworfenen „Fragenbogen“ als der
–
implizit höherwertig gedeuteten – deutschen Kultur wesensfremd darzustellen versuchte –
dies freilich unter völliger Ausblendung des Kausalzuammenhanges der Entnazifizierung ,
nämlich des Holocaust , so , als wäre es bloß um ein kurioses Gesellschaftsspiel zur Belusti-
gung der Deutschen gegangen : „Denn darüber sind sich die wenigsten Deutschen klar , daß
der Fragebogen nicht als Tortur für die besiegte Nation eigens erfunden wurde , sondern
daß jeder Amerikaner sich selbst tausendmal einem Fragebogen unterwirft , daß er über sich
selbst nach den gültigen Fragebogenregeln die Summe zieht wie über uns die Angehöri-
gen der Control Councils und des CIC. Der Fragebogen entscheidet in Amerika nicht nur
über Schulung , Berufswahl und Fortkommen ; es ist gleichzeitig in der Form des ‚Quiz‘ ein
nationaler Sport auf geistigem Gebiet , der am Radio , in der Presse , in großen Versammm-
lungshallen ebenso eifrig verfolgt wird wie Football und Baseball auf den Spielfeldern.“1019
1015 Zit. nach : Ehrmann , An Experiment in Political Education. The Prisoners-of-War Schools , a. a. O., 307.
1016 Robin , The Barbed-Wire College. Reeducating German POWs , a. a. O., 163 f.
1017 Margret Boveri ( 1900–1975 ), deutsche Journalistin , die während des Nationalsozialismus , obwohl kein
NSDAP-Mitglied , von 1939 an als Auslandskorrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in
New York lebte. Ab 1944 arbeitete sie als Autorin bei der Goebbels-Postille Das Reich. Boveri , die in
dieser Zeit auch explizit antisemitische Artikel verfasste , war u. a. befreundet mit Ernst Jünger und
Gottfried Benn. Vgl. Titus Arnu , „Wir lügen alle“. Margret Boveri 1900–1975. In : Hans-Jürgen Ja-
cobs / Wolfgang R. Langenbucher ( Hrsg. ), Das Gewissen ihrer Zeit. Fünfzig Vorbilder des Journalismus ,
Wien 2004 , 189–203.
1018 Bei den hier angesprochenen „Hollerith-Maschinen“ handelte es sich zwar um IBM-Technologie , über
die „Deutsche Hollerith Maschinen Gesellschaft“ ( Dehomag ), die über die Kriegsjahre mit der amerika-
nischen IBM verzahnt blieb , erfolgte allerdings via Lochkarten-Computer die ‚effiziente‘ Administration
des NS-Vernichtungsapparates. Vgl. Edwin Black , IBM and the Holocaust , The Strategic Alliance bet-
ween Nazi Germany and America‘s most Powerful Corporation. 3 Aufl., Washington D.C., 2009 , 30 ff.
1019 Margret Boveri , Amerika-Fibel für erwachsene Deutsche. Ein Versuch , Unverstandenes zu erklären ,
Freiburg i. Br. 1946 , 50.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741