Seite - 315 - in Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration - US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Bild der Seite - 315 -
Text der Seite - 315 -
315
Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung
Ärzteschaft – der „Bund sozialdemokratischer AkademikerInnen , Intellektueller und
KünstlerInnen“ ( BSA ), der aus partei- beziehungsweise machtpolitischen Motiven die
Reintegration auch belasteter „ehemaliger“ Mediziner entscheidend gefördert hat. Durch
Hilfe bei der Entregistrierung und durch gezielte Anwerbeaktionen , die sich allerdings
nicht auf vertriebene jüdische beziehungsweise linke Funktionäre und Mitglieder erstreck-
te ,1342 sollte das durch Faschismus , Emigration und Krieg gegenüber dem katholischen
Cartellverband ( CV ) deutlich dezimierte Potenzial sozialdemokratischer Intellektueller
und Akademiker – auch gegen internen antifaschistischen Widerstand – bundesweit an-
gehoben werden.1343 Die fatale und ungeprüfte Reintegration1344 ehemaliger Nationalso-
zialisten verlief , gemessen am österreichweiten Schnitt , überaus erfolgreich1345 und trug ,
wie Wolfgang Neugebauer und Peter Schwarz konstatieren , dazu bei , die „offizielle Ausei-
nandersetzung mit dem Nationalsozialismus als Tabu“ zu verfestigen , was „regelrecht eine
Mauer des Schweigens , Vergessens , und Verdrängens zementierte“.1346
Im weiteren Verlauf des zitierten Gesprächs zwischen Major Lott und Rektor Ada-
movich kristallisierte sich auch heraus , in welcher Weise sich die Kontakte zwischen der
US-Education Branch und der Universitätsleitung künftig gestalten würden. Schon in der
1342 Neugebauer / Schwarz , Der Wille zum aufrechten Gang , a. a. O., 32 f.
1343 Der offene Wettlauf und das Buhlen um die Stimmen der ehemaligen setzte spätestens nach der ersten
Nationalratswahl zu Beginn des Jahres 1946 ein. Im Zusammenhang mit der Minderbelastetenamne-
stie Feburar 1947 stieg der Zulauf zum BSA ab 1948 rasch an : bis 1954 vervierfachte sich dessen Mit-
gliederzahl von 2. 312 auf 8. 741. Allein beim Wiener BSA-Ärzteverband befanden sich unter den 365
Mitgliedern insgesamt 126 Registrierte , darunter nicht wenige überaus schwer Belastete. Vgl. Neuge-
bauer / Schwarz , Der Wille zum aufrechten Gang , a. a. O., 64 bzw. 238 ff.
1344 Wie Neugebauer und Schwarz anhand der Analyse der vorhandenen BSA-Akten sowohl statistisch als
auch durch eine Vielzahl von Fallbeispielen belegen , erfolgte die Aufnahme ziemlich umstandslos : „Es
wurde weder überprüft , ob die jeweiligen BeitrittskandidatInnen mit dem Nationalsozialismus gebro-
chen hatten , noch ob sie sich zu den Grundwerten des Humanismus , der Demokratie und insbesondere
der Sozialdemokratie bekannten.“ Zit. nach : Neugebauer / Schwarz , Der Wille zum aufrechten Gang ,
a. a. O., 218.
1345 „Im Nachkriegsösterreich entsprach die von Historikern genannte Zahl von ca. 700. 000 ehemaligen
NSDAP-Mitgliedern bei einer Einwohnerzahl von ca. 7. 015. 000 ( Volkszählung 1939 ) einem Anteil
von 10 Prozent ( einem Zehntel ) an der Gesamtbevölkerung [ allerdings inkludierte diese Bevölkerungs-
ziffer zum damaligen Zeitpunkt die Südböhmischen und Südmährischen Gebiete , die im Oktober 1938
der „Ostmark zugeschlagen wurden ; 1941 folgten die Untersteiermark und Oberkrain , die der Steier-
mark bzw. Kärnten zugeschlagen wurden , d. Verf. ]. Der Anteil der ehemaligen NSDAP-Mitglieder be-
läuft sich in unserer BSA-Ärzte-Stichprobe [ 1. 388 ÄrztInnen , d. Verf. ] hingegen auf 15 Prozent ( 208
von 1. 388 ), das heißt der von uns ermittelte NS-Anteil ( 15 Prozent ) liegt um die Hälfte ( 50 Prozent )
über dem gesamtösterreichischen Wert ( 10 Prozent ). Diese Differenz fällt noch dramatischer aus – an
die 100 Prozent –, wenn man den Anteil der nach dem NS-Gesetz registrierten ehemaligen National-
sozialisten ( ca. 549. 000 ) an der Gesamtbevölkerung ( ca. 7. 015. 000 ) im Ausmaß von 7,8 Prozent mit
unserem Ergebnis ( 15 Prozent ) vergleicht.“ Neugebauer / Schwarz , Der Wille zum aufrechten Gang ,
a. a. O., 226.
1346 Ebd., 221.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741