Seite - 361 - in Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration - US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
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Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung
Kurzer Einschub : Auch in der amerikanischen Besatzungszone in Oberösterreich sah
die Situation
– hier allerdings ( auf Grund des Fehlens einer Universität ) den Schulbereich
betreffend
– nicht viel anders aus. Eine harte Entnazifizierung , die rund 70 Prozent des ge-
samten Lehrpersonals betroffen hätte , wurde von den Amerikanern letztlich nicht durch-
geführt , womöglich auch deshalb , weil man vor der Unsicherheit über die zu entscheiden-
den provisorischen Übergangslösungen zurückscheute1537 – wobei die Entnazifizierung
im Schulwesen , wie Stiefel hervorhebt , mit deutlichen regionalen Unterschieden erfolgte.
So wurden etwa in Tirol an die 40 Prozent der „minderbelasteten“ Pflichtschullehrer im
Dienst belassen , während in Wien 1947
– wohl nicht zuletzt auch auf Grund der Urgenzen
der sowjetischen Besatzungsmacht – nur ein Minderbelasteter , ein Blindenlehrer , weiter-
hin lehren durfte.1538
Die grundsätzliche Chance für einen fundamentalen Neubeginn in der österreichischen
Wissenschaftskultur wurde jedenfalls – ähnlich wie in Deutschland1539 – nicht ergriffen ,
zumal die entscheidenden Weichenstellungen bereits zuvor erfolgt waren : Die maßgebli-
chen Personen , sowohl im Akademischen Senat der Universität Wien als auch innerhalb
der Ministerialbürokratie , waren in keiner Weise an wissenschaftspolitischen Innovatio-
nen und schon gar nicht an der Rückholung vertriebener jüdischer Wissenschafter inter-
essiert.1540 Wie von Robert Stumpf bereits zu Recht hervorgehoben wurde , schuf der an
auf. Siehe : Pfefferle / Pfefferle , Glimpflich entnazifiziert , a. a. O., 82 ; vgl. auch Matis , Zwischen Anpas-
sung und Widerstand , a. a. O., 16 f. ; zu Viktor Christian siehe den jüngst erschienenen quellenbasierten
Beitrag : Irene Maria Leitner , „Bis an die Grenzen des Möglichen“. Der Dekan Viktor Christian und
seine Handlungsspielräume an der philosophischen Fakultät 1938–1943. In : Ash / Nieß / Pils ( Hrsg. ),
Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus , a. a. O., 49–77 , sowie : Dirk Rupnow , Brüche und Kon-
tinuitäten – Von der NS-Judenverfolgung zur Nachkriegsjustiz. In : Ebd., 79–110 ; zu Oswald Menghin
siehe : Otto H. Urban , Die Ur- und Frühgeschichte an der Universität Wien vor , während und nach der
NS-Zeit. In : Ebd., 386 ff.
1537 Vgl. Gabriele Hindinger , Das Kriegsende und der Wiederaufbau demokratischer Verhältnisse in Obe-
rösterreich im Jahre 1945 ( Publikationen des Österreichischen Instituts für Zeitgeschichte , Bd. 6 ), Diss.,
Univ. Wien 1968 , 104 f.
1538 Stiefel , Entnazifizierung , a. a. O., 166.
1539 Auch in Deutschland blieb die Entnazifizierung durch die amerikanische Besatzungsmacht in Form des
eigens eingerichteten „University Planning Committee“, dessen Aufgaben in etwa den Sonderkommissi-
onen in Österreich entsprachen , trotz schärferer Durchführung und Enthebung von Rektoren , zunächst
eine Maßnahme ohne jede Tiefenwirkung. Im Unterschied zu Österreich kam es jedoch in den Folgejah-
ren in Deutschland zu einer intensiv geführten wissenschaftspolitischen Auseinandersetzung , die ame-
rikanischerseits durch eigenständige Reformvorschläge der OMGUS-Hochschulabteilung begleitete
wurde , die schließlich in einer adapierten Form im sogenannten „Blauen Gutachten“ ( 1948 ) mündeten ,
worin der Weg in Richtung einer demokratischen Öffnung der Deutschen Universitäten vorgezeichnet
wurde und die Gründung der „Freien Universität Berlin“ ( 1948 ) zur Folge hatte. Vgl. Paulus , Amerika-
nisierung von Universität und Wissenschaft in Westdeutschland 1945–1976 , a. a. O., 95 ff. bzw. 171 ff.
1540 Bezeichnenderweise empfahl Karl Renner , der in Gloggnitz seinen eigenen Worten zufolge „Physik
nachgeholt hatte“, in einem Schreiben an Rektor Adamovich den Physiker und „dreifachen“ [ sic ] Nobel-
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741