Seite - 17 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Die heilige Schar
… es würde Nacht und kalt
Auf Erden und in Not verzehrte sich
Die Seele, sendeten zuzeiten nicht
Die guten Götter solche Jünglinge,
Der Menschen welkend Leben zu erfrischen.
Der Tod des Empedokles
Das neue, das neunzehnte Jahrhundert liebt seine Jugend nicht. Ein
glühendes Geschlecht ist entstanden: feurig und kühn drängt es von allen
Windrichtungen zugleich aus den aufgelockerten Schollen Europas der
Morgenröte neuer Freiheit entgegen. Die Fanfare der Revolution hat diese
Jünglinge erweckt, ein seliger Frühling des Geistes, eine neue Gläubigkeit
entbrennt ihnen die Seele. Das Unmögliche scheint plötzlich nah geworden,
die Macht und die Herrlichkeit der Erde jedem Verwegenen zur Beute, seit ein
Dreiundzwanzigjähriger, seit Camille Desmoulins mit einer einzigen kühnen
Geste die Bastille zerbrach, seit der knabenhaft schlanke Advokat aus Arras,
Robespierre, Könige und Kaiser zittern läßt, seit der kleine Leutnant aus
Korsika, Bonaparte, mit dem Degen die Grenzen Europas nach seinem
Gutdünken zieht und die herrlichste Krone der Welt mit Abenteurerhänden
faßt. Nun ist ihre Stunde, die Stunde der Jugend gekommen: wie das erste
zarte Grün nach dem Frühlingsregen schießt sie plötzlich auf, diese heroische
Saat heller, begeisterter Jünglinge. In allen Ländern heben sie sich zugleich
empor, den Blick zu den Sternen, und stürmen über die Schwelle des neuen
Jahrhunderts, als in ihr eigenstes Reich. Das achtzehnte Jahrhundert, so fühlen
sie, hat den Greisen und Weisen gehört, Voltaire und Rousseau, Leibniz und
Kant, Haydn und Wieland, den Langsamen und Geduldigen, den Großen und
Gelehrten: nun aber gilt Jugend und Kühnheit, Leidenschaft und Ungeduld.
Mächtig schwillt sie empor, die aufstürmende Woge: nie sah Europa seit den
Tagen der Renaissance einen reineren Aufschwall des Geistes, ein schöneres
Geschlecht.
Aber das neue Jahrhundert liebt diese seine kühne Jugend nicht, es hat
Furcht vor ihrer Fülle, einen argwöhnischen Schauer vor ihrem Überschwang.
Und mit eiserner Sense mäht es unbarmherzig die eigene Frühlingssaat. Zu
Hunderttausenden malmt die Mutigsten der Napoleonische Krieg, fünfzehn
Jahre lang zerstampft seine mörderische Völkermühle die Edelsten, die
Kühnsten, die Freudigsten aller Nationen, und die Erde Frankreichs,
Deutschlands, Italiens bis hinüber zu den Schneefeldern Rußlands und den
Wüsten Ägyptens ist gedüngt und getränkt von ihrem pochenden Blut. Aber
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199