Seite - 34 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Der Mythus der Dichtung
Menschen haben es nicht gelehrt,
Mich trieb, unendlich liebend, ein heilig Herz
Unendlichem entgegen.
Kein deutscher Dichter hat jemals so sehr an die Dichtung und ihren
göttlichen Ursprung geglaubt wie Hölderlin. So sonderbar es klingt, dieser
zarte protestantische Pfarreraspirant aus Schwaben hat eine absolute
antikische Einstellung zum Unsichtbaren, zu den Mächten, er glaubt viel
gläubiger an den »Vater Äther« und das waltende Schicksal als seine
Altersbrüder, als Novalis und Brentano an ihren Christus: Poesie ist ihm, was
jenen das Evangelium, Aufschließung der letzten Wahrheit, das trunkene
Geheimnis, Hostie und Wein, das den Leib, den allzu irdischen, glühend dem
Unendlichen weiht und verbindet. Selbst für Goethe ist Dichtung doch bloß
ein Teil des Lebens, für Hölderlin unbedingt der Sinn des Lebens, jenem eine
bloß persönliche Notwendigkeit, ihm aber überpersönliche, eine religiöse
Notwendigkeit. In der Poesie erkennt er fürchtig den Atem des Göttlichen, die
einzige Harmonie, in der sich der urewige Zwiespalt des Seins für selige
Augenblicke löst und entspannt. Wie der Äther das Zwischenreich zwischen
Himmel und Erde, so füllt die Dichtung die Kluft zwischen dem Oben und
Unten des Geistes, zwischen den Göttern und den Menschen. Die Dichtung –
ich wiederhole es – ist für Hölderlin nicht nur wie jenen eine musikalische
Zutat des Lebens, bloß ein Schmuckhaftes am geistigen Leib der Menschheit,
sondern das höchste Zweckhafte und Sinnvolle, das alles erhaltende und
gestaltende Prinzip: ihr sein Leben zu weihen, darum die einzig wertvolle und
würdige Opfertat. Aus dieser Größe der Anschauung allein erklärt sich die
Größe von Hölderlins Heldentum.
Unablässig hat Hölderlin diesen Mythus des Dichters in seinem Gedicht
gebildet: und er muß nachgebildet werden, um die Leidenschaft seiner
Verantwortlichkeit zu verstehen. Für ihn, den Frommgläubigen der »Mächte«,
ist die Welt ganz im griechischen, im platonischen Sinne zwiegeteilt. Oben
»wandeln die Himmlischen selig im Licht«, unnahbar und doch
anteilnehmend. Unten wieder ruht und werkt die dumpfe Masse der
Sterblichen in der sinnlosen Tretmühle täglichen Tuns:
Es wandelt in Nacht, es wohnt, wie im Orkus,
Ohne Göttliches unser Geschlecht. Ans eigene Treiben
Sind sie geschmiedet allein, und sich in der tosenden Werkstatt
Höret jeglicher nur, und viel arbeiten die Wilden
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199