Seite - 48 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Gefährliche Begegnung
Ach, wär ich nie in eure Schulen gegangen.
Hyperion
Das erste in Hölderlins Entschluß zur Freiheit ist der Gedanke an das
Heroische des Lebens, der Wille, das »Große« zu suchen. Doch ehe er sich
vermißt, es in der eigenen Brust zu entdecken, will er »die Großen« sehen, die
Dichter, die heilige Sphäre. Nicht Zufall treibt ihn gerade nach Weimar: dort
sind Goethe und Schiller und Fichte und ihnen zur Seite wie die leuchtenden
Trabanten um die Sonne Wieland, Herder, Jean Paul, die Schlegels,
Deutschlands ganzer geistiger Sternenhimmel. Solche gesteigerte Atmosphäre
zu atmen, sehnt sich sein allem Unpoetischen geradezu gehässiger Sinn: hier
hofft er antikische Luft nektarisch einzusaugen und in dieser Agora des
Geistes, in diesem Kolosseum dichterischen Ringens die eigene Kraft zu
erproben.
Solchem Ringen aber will er sich erst bereiten, denn der junge Hölderlin
fühlt sich geistig, fühlt sich gedanklich und im Sinne der Bildung nicht
vollwertig neben Goethes umspannendem Weltblick, neben Schillers
»kolossalischem«, in gewaltigen Abstraktionen wirkendem Geiste. So meint
er – der ewig waltende deutsche Irrtum! – sich systematisch »bilden«,
Philosophie in Kollegien »belegen« zu müssen. Genau wie Kleist
vergewaltigt auch er seine durchaus spontane, exaltive Natur durch den
zwanghaften Versuch, seine Himmel sich metaphysisch zu erläutern, seine
dichterischen Pläne mit Doktrinen zu unterlegen. Ich fürchte, es ist noch
niemals mit dem notwendigen Freimut ausgesprochen worden, wie
verhängnisvoll damals nicht nur für Hölderlin, sondern für die ganze deutsche
dichterische Produktivität die Begegnung mit Kant, die Beschäftigung mit der
Metaphysik geworden ist.
Und mag auch die traditionelle Literaturlehre es auch ferner noch als
herrlichen Höhepunkt feiern, daß die deutschen Dichter damals Kants Ideen
eilig in ihre dichterischen Bezirke aufnahmen – ein freier Blick muß endlich
wagen, die verhängnisvollen Schäden dieser dogmatisch-grüblerischen
Invasion festzustellen. Kant hat – ich spreche hier eine streng persönliche
Überzeugung aus – die reine Produktivität der klassischen Epoche, die er mit
der konstruktiven Meisterschaft seiner Gedanken überwältigte, unendlich
gehemmt, der Sinnlichkeit, der Weltfreudigkeit, dem Freilauf der Phantasie
bei allen Künstlern durch die Ablenkung auf einen ästhetischen Kritizismus
unendlichen Abbruch getan. Er hat jeden Dichter, der sich ihm hingab, im
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199