Seite - 81 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Sturz ins Unendliche
Was Eines ist, zerbricht, Empedokles,
So gehet festlich hinab
Das Gestirn. Und trunken
Von seinem Lichte glänzen die Täler.
Als Dreißigjähriger tritt Hölderlin über die Schwelle des Jahrhunderts;
gewaltigstes Werk haben die letzten leidvollen Jahre in ihm vollendet. Die
lyrische Form ist gefunden, der heroische Rhythmus des großen Gesanges
geschaffen, die eigene Jugend in Hyperions Träumergestalt, die Tragödie des
Geistes im »Tod des Empedokles« verewigt. Nie war er höher angestiegen
und nie näher dem Untergang. Denn die Welle, die ihn mächtigen Schwunges
hochauf über das Maß des Lebens getragen, schon bäumt sie sich zu
zerschmetterndem Sturz. Und er selbst fühlt mit prophetischer Ahnung die
nahe Neige, er weiß:
Es ziehet wider Willen ihn von
Klippe zu Klippe, den Steuerlosen,
Das wunderbare Sehnen dem Abgrund zu.
Denn es hilft nichts, so hohes Werk geschaffen zu haben: nur
Unverständnis erntet er, wo er Liebe ersehnt, denn
es gibt
Ein finstres Geschlecht, das weder einen Halbgott
Gern hört oder wenn mit Menschen ein Himmlisches oder
In Wogen erscheint, gestaltlos, oder das Angesicht
Des Reinen ehrt, des nahen
Allgegenwärtigen Gottes.
Noch immer, mit dreißig Jahren, ist er Freischlucker an fremdem Tisch, der
Lektionsgeber im verschabten schwarzen Kandidatenrock, noch immer hängt
er der alternden Mutter, der uralten Großmutter in der Tasche, noch immer
wie in Knabenzeit stricken sie ihm Strümpfe und versorgen den Hilflosen mit
Wäsche und Kleidung. Mit »täglichem Fleiße« hat er nun in Homburg wie
einst in Jena nochmals versucht, von den ersparten Groschen eine dichterische
Existenz (die einzig ihm gemäße!) sich zu erhungern und die
»Aufmerksamkeit meines deutschen Vaterlandes so weit zu verdienen, daß
die Menschen nach meinem Geburtsort und meiner Mutter fragen«. Aber
nichts vollendet sich, nichts fördert ihn: noch immer nimmt Schiller mit
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199