Seite - 172 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
Bild der Seite - 172 -
Text der Seite - 172 -
Wandlungen zu sich selbst
Die Schlange, welche sich nicht häuten kann,
geht zugrunde. Ebenso die Geister, welche man
verhindert, ihre Meinungen zu wechseln: sie
hören auf, Geist zu sein.
Die Menschen der Ordnung, so farbblind sie sonst dem Einzigartigen
gegenüberstehen mögen, haben doch einen untrüglichen Instinkt für das ihnen
Feindselige; lange bevor Nietzsche sich als der Amoralist, der Brandstifter
ihrer umfriedeten Moralhürden enthüllte, haben sie ihn befeindet: ihre
Witterung wußte mehr von ihm als er selbst. Er war ihnen unbequem als
ewiger Außenseiter aller Kategorien, als Mischling von Philosoph, Philolog,
Revolutionär, Künstler, Literat und Musikant – von der ersten Stunde ist er
den Fachmenschen als Überschreiter der Grenzen verhaßt. Kaum
veröffentlicht der Philologe sein Frühwerk, so prangert der Philologe
Wilamowitz (er ist es geblieben ein halbes Jahrhundert, indes sein Gegner
hinauswuchs in Unsterblichkeit) den Grenzüberschreiter bei den Kollegen an.
Ebenso mißtrauen – und wie mit Recht! – die Wagnerianer dem
leidenschaftlichen Panegyriker, die Philosophen dem Erkenner: noch im
Puppenzustand des Philologen, noch als Unbeflügelter hat Nietzsche bereits
die Fachlichen gegen sich. Nur das Genie, der Wissende um den Wandel, nur
Richard Wagner liebt im Werdenden den zukünftigen Feind. Die andern aber,
sie spüren und wittern an seinem weit ausholenden kühnen Gang sofort sein
Unverläßlichsein, das Nicht-treu-Bleiben an der Überzeugung, jene maßlose
Freiheit, die der Freieste gegen alles, also auch gegen sich selber fühlt. Und
selbst heute, da seine Autorität sie duckt und einschüchtert, möchten die
Fachmenschen gerne den »Prinzen Vogelfrei« wieder in ein System eingittern,
in eine Lehre, eine Religion, in eine Botschaft. Sie möchten ihn starr haben
wie sich selbst, an Überzeugungen gebunden, in eine Weltanschauung
vermauert – gerade das, was er am meisten fürchtete. Ein Definitives, ein
Unwidersprochenes möchten sie dem Wehrlosen aufzwingen und den
Nomadischen (nun, da er die Welt des Geistes, die unendliche, erobert)
festbannen in ein Haus, das er niemals hatte und niemals ersehnte.
Aber Nietzsche ist nicht zu bannen in eine Lehre, nicht festzunageln an
eine Überzeugung – nie ist auch auf diesen Blättern das
Schulmeisterkunststück versucht, aus einer erschütternden Tragödie des
Geistes eine kalte »Erkenntnistheorie« zu exzerpieren – denn nie hat sich der
leidenschaftliche Relativist aller Werte an irgendein Wort seiner Lippe, an
eine Überzeugung seines Gewissens, an eine Leidenschaft seiner Seele
172
Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199