Seite - 91 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Scardanelli
Der aber ist ferne, nicht mehr dabei,
Irr ging er nun, denn allzugut sind
Genien: himmlisch Gespräch ist sein nun.
Vierzig Jahre lang ist der irdische Hölderlin fortgetragen von der Wolke des
Wahnsinns; was unterdessen auf Erden von ihm weilt, ist sein armes alterndes
Schattenbild Scardanelli: denn so und nur so schreibt seine unbeholfene Hand
unter die wirren Blätter mit Versen. Er hat sich selber vergessen und die Welt
ihn.
In fremdem Haus bei dem braven Tischlermeister wohnt dieser Scardanelli
bis tief ins neue Jahrhundert hinein. Ungerührt streicht die Zeit um das
dämmernde Haupt, und endlich bleicht von ihrer blassen Berührung das
einstens blondwallende Haar. Außen formt sich die Welt in Sturz und Wandel:
Napoleon bricht ein in Deutschland und wird wieder vertrieben, von Rußland
jagen sie ihn bis Elba und Sankt Helena, dort lebt er wie ein gefangener
Prometheus noch zehn Jahre, stirbt und wird Legende – der Einsame in
Tübingen weiß es nicht, der doch einst den »Helden von Arcole« besungen.
Schiller, der Herr seiner Jugend, wird nachts von Handwerkern zur Grube
gesenkt, sein Gebein modert Jahre und Jahre, dann sprengt sich die Gruft,
Goethe hält den Totenschädel des geliebten Freundes sinnend in Händen, aber
der »himmlische Gefangene« versteht nicht mehr das Wort Tod. Dann geht
jener selber hinweg, derdreiundachtzigjährige Weise von Weimar geht in den
Tod nach Beethoven und Kleist und Novalis und Schubert; ja Waiblinger
selbst, der als Student Scardanelli oft in seiner Zelle besuchte, wird
eingesargt, indes jener noch »sein Schlangenleben« führt. Ein neues
Geschlecht ersteht, Hölderlins verschollene Söhne, Hyperion und
Empedokles, wandeln endlich geliebt und erkannt durch deutsches Land –
aber kein Laut, keine Ahnung davon dringt in des Tübingers geistige Gruft.
Er ist ganz jenseits aller Zeit, ganz im Ewigen, in Rhythmus und Melodie
ertrunken.
Manchmal kommt ein Fremder, ein Neugieriger, den sagenhaft
Verschollenen zu sehen. Am alten Stadtturm von Tübingen klebt ein kleines
Häuschen, und oben im Erker, der vergittertes Fenster, aber freien Blick hat in
die Landschaft, ist Scardanellis schmales Gelaß. Die braven Tischlersleute
geleiten den Besucher hinauf zu einer kleinen Tür: hinter ihr hört man
sprechen, aber niemand ist innen als der Kranke, der unaufhörlich in
gehobener Sprache vor sich hin summt. Wie Psalmodieren läuft dieser wirre
Sprudel von Worten ohne Form und Sinn ihm lose vom Munde. Manchmal
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199