Seite - 133 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Die letzte Bindung
Denn über alles siegt das Rechtsgefühl.
Die Familie Schroffenstein
In allen seinen Dramen war Kleist Selbstverräter seines Wesens: in jedem
hat er einen feurigen Teil seiner Seele aus sich in die Welt geschnellt, eine
Leidenschaft in Gestalt verwandelt. So kennt man ihn teilhaft ganz und seinen
Widerstreit: doch aber wäre seine Erscheinung nicht ins Zeitlose getreten,
hätte er in seinem letzten Werk nicht das Höchste zu geben vermocht: sich
ganz in seiner höchsten Gebundenheit. Hier, im »Prinzen von Homburg«, hat
er mit jener letzten Genialität, die das Schicksal einem Künstler selten mehr
als einmal verleiht, sich selbst, seines Wesens Urmacht, seinen Lebenskonflikt
zur Tragödie erhoben: die Antinomie von Leidenschaft und Zucht. In der
»Penthesilea«, im »Guiskard«, in der »Hermannsschlacht« war übersteigernd
groß immer nur ein Trieb – leidenschaftlich und voll Stoßkraft zum
Unendlichen hin – in das Werk gefahren, hier aber ist nicht Einzeltrieb,
sondern die ganze verwirrte Triebwelt zur Welt verwirklicht. Druck und
Gegendruck statt gegeneinander ruckweise ziehend, zu Widerwirkung und
Schwebe gebracht. Und was ist Schwebe der Kräfte anders als die höchste
Harmonie?
Die Kunst kennt keinen schöneren Augenblick, als wenn sie das
Übermäßige in seinem Ebenmaß zeigen darf, in jener sphärisch tönenden
Sekunde, da einen Wimperschlag lang die Dissonanz sich löst in eine urselige
Harmonie: je furchtbarer die Entzweiung, um so machtvoller dieser
Ineinandersturz, um so brausender der Einklang der stürzenden Ströme.
Kleistens »Homburg« hat wie kein zweites deutsches Drama diese
Herrlichkeit äußerster Entspannung: der zerstörteste Dichter gibt (eine Spanne
kaum vor seiner Selbstvernichtung) der Nation die vollendetste Tragödie, so
wie Hölderlin eine Stunde vor der letzten Dunkelheit seine welthaft tönende
orphische Hymnik, wie Nietzsche vor dem Zerschellen des Geistes noch die
höchste geistige Trunkenheit, das tanzende, diamantensprühende Wort. Diese
Magie des Untergangsgefühls ist jenseits allen Erläuterns, unerklärbar
herrlich schön wie das letzte Hochaufspringen der schon blau geduckten
Flamme vor dem Erlöschen.
Im »Homburg« hat Kleist den Dämon für einen Augenblick gebändigt,
indem er ihn ganz von sich in sein Werk stieß. Diesmal hat er nicht wie sonst
– in der »Penthesilea«, im »Guiskard«, in der »Hermannsschlacht« – nur
einen Kopf der Hydra abgeschlagen, die ihn erdrückend umschlingt, hier faßt
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199