Seite - 161 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Der Don Juan der Erkenntnis
Auf die ewige Lebendigkeit kommt es an, nicht
auf das ewige Leben.
Immanuel Kant lebt mit der Erkenntnis wie mit einem ehelich angetrauten
Weibe, beschläft sie vierzig Jahre lang im gleichen geistigen Bette und zeugt
mit ihr ein ganzes deutsches Geschlecht philosophischer Systeme, von denen
Nachkommen noch heute in unserer bürgerlichen Welt wohnen. Seine
Beziehung zur Wahrheit ist absolut monogam und ebenso jene all seiner
intellektuellen Söhne: Schelling, Fichte, Hegel und Schopenhauer. Was sie zur
Philosophie treibt, ist ein durchaus undämonischer höherer Ordnungswille,
ein guter deutscher, fachlicher und sachlicher Wille zur Disziplinierung des
Geistes, zu einer ordnungshaften Architektonik des Daseins. Sie haben Liebe
zur Wahrheit, eine ehrliche, dauerhafte, durchaus beständige Liebe: aber in
dieser Liebe fehlt vollkommen die Erotik, die flackernde Gier des Zehrens
und Sich-selber-Verzehrens; sie fühlen die Wahrheit, ihre Wahrheit als Gattin
und gesicherten Besitz, von der sie sich bis zur Stunde des Absterbens nie
loslösen und gegen die sie niemals untreu sind. Darum bleibt ewig etwas
Hausbackenes, etwas Haushälterisches in ihrer Beziehung zur Wahrheit, und
tatsächlich hat jeder von ihnen über Braut und Bett sich ein eigenes Haus
erbaut: sein gesichertes System. Und diesen ihren eigenen Bezirk, ihren
eroberten Acker des Geistes, den sie aus dem urweltlichen Dickicht des
Chaos für die Menschheit ausgerodet haben, bestellen sie meisterlich mit
Egge und Pflug. Vorsichtig schieben sie die Gemarken ihrer Erkenntnis weiter
hinaus in die Kultur der Zeit und mehren mit Fleiß und Schweiß die geistige
Frucht.
Nietzsches Leidenschaft zur Erkenntnis dagegen kommt aus ganz anderem
Temperament, aus einer geradezu antipodischen Welt des Gefühls. Seine
Einstellung zur Wahrheit ist eine durchaus dämonische, eine zitternde
atemheiße, nervengejagte, neugierige Lust, die sich nie befriedigt und nie
erschöpft, die nirgends stehenbleibt bei einem Resultat und über alle
Antworten hin sich immer wieder ungeduldig und unbändig weiterfragt.
Niemals zieht er eine Erkenntnis dauernd an sich und macht sie mit Eid und
Treuschwur zu seinem Weibe, zu seinem »System«, zu seiner »Lehre«. Alle
reizen ihn an, und keine kann ihn halten. Sobald ein Problem die
Jungfräulichkeit, den Reiz und das Geheimnis der erbrochenen Scham
verloren hat, läßt er es mitleidslos, eifersuchtslos den andern nach ihm, so wie
Don Juan, sein Bruder im Triebe, seine mille e tre, ohne sich weiter um sie zu
bekümmern. Denn wie jeder große Verführer durch alle Frauen hindurch die
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199