Seite - 149 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Doppelbildnis
Das Pathos der Attitüde gehört nicht zur Größe; wer
Attitüden überhaupt nötig hat, ist falsch … Vorsicht vor
allen pittoresken Menschen!
Pathetisches Heroenbild. So bildet ihn die marmorne Lüge, die pittoreske
Legende: ein trotzig gerecktes Heldenhaupt, hohe wölbige Stirn, zerklüftet
von düstern Gedanken, niederwuchtende Welle des Haares über gespanntem,
auftrotzendem Nacken. Unter den buschigen Augenbrauen blitzt Falkenblick,
jeder Muskel des gewaltigen Gesichts steht straff von Willen, Gesundheit und
Kraft. Der Vercingetorix-Schnurrbart männisch über herben Mund und das
vorstoßende Kinn stürzend, zeigt den barbarischen Krieger, und unwillkürlich
denkt man sich zu diesem muskelkräftigen Löwenhaupt eine germanische
Wikingergestalt mit Siegschwert, Hifthorn und Speer. So, zum deutschen
Übermenschen, zum antiken Promethiden der gefesselten Kraft gewaltsam
übersteigert, lieben es unsere Bildhauer und Maler, den Einsamen im Geiste
darzustellen, um ihn einer kurzgläubigen Menschheit anschaulicher zu
machen, die von Schulbuch und Bühne her unfähig ist, das Tragische anders
als in theatralischer Drapierung zu verstehen. Das wahrhaft Tragische aber ist
niemals theatralisch und Nietzsches wahres Bildnis darum unendlich weniger
pittoresk als seine Büsten und Bilder.
Bildnis des Menschen. Der dürftige Speiseraum einer Sechs-Franken-
Pension in einem Alpenhotel oder am ligurischen Strand. Gleichgültige Gäste,
zumeist ältere Damen im »small talk«, im kleinen Gespräch. Die Glocke hat
dreimal zu Tisch gerufen. Über die Schwelle tritt mit gedrückter Schulter eine
leicht gebückte unsichere Gestalt: wie aus einer Höhle heraus tappt immer der
»Sechs-Siebentel-Blinde« in fremdes Gelaß. Dunkles, sauber gebürstetes
Kleid, dunkel auch das Antlitz mit dem buschigen, braunen, gewellten Haar.
Dunkel auch die Augen hinter der fast rundgeschliffenen dicken
Krankenbrille. Leise, ja sogar schüchtern tritt er heran, eine ungemeine
Lautlosigkeit um sein Wesen. Man fühlt einen Menschen, der im Schatten
lebt, jenseits jeder gesprächigen Geselligkeit, der alles Laute, allen Lärm mit
fast neurasthenischer Ängstlichkeit fürchtet: höflich, mit ausgesucht
vornehmer Artigkeit grüßt er die Gäste, höflich, mit liebenswürdiger
Gleichgültigkeit grüßen die andern den deutschen Professor zurück.
Vorsichtig rückt sich der Kurzsichtige an den Tisch, vorsichtig prüft der
Magenempfindliche jedes Gericht: ob der Tee nicht zu stark sei, die Speisen
nicht übermäßig gewürzt, denn jeder Irrtum in der Kost reizt seine
empfindlichen Gedärme, jeder Verstoß in der Nahrung wühlt die zitternden
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199