Seite - 26 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Bildnis in Tübingen
Der Menschen Worte verstand ich nie.
Im Arme der Götter wuchs ich groß.
Wie flüchtiger Sonnenblick zwischen lastendem Gewölk glänzt in dem
einzig erhaltenen Frühbild Hölderlins Gestalt: ein schlanker Jüngling, das
blonde Haar in weicher Welle zurückwogend von klarer, morgendlich
strahlender Stirn. Klar auch die Lippe und frauenhaft weich die Wange (die
man sich leicht errötend denken mag von rasch aufwogender Glut), hell das
Auge unter den schön geschwungenen schwarzen Brauen, nirgends nistet in
diesem zarten Antlitz ein heimlicher Zug, der auf Härte deutete oder auf
Hochmut, eher eine mädchenhafte Schüchternheit, eine verborgen-zärtliche
Woge des Gefühls. »Anstand und Artigkeit« rühmt ihm ja auch Schiller von
der ersten Begegnung her nach, und wohl kann man sich den schmalhüftigen
blonden Jüngling im ernsten Habit des protestantischen Magisters vorstellen,
wie er im schwarzen ärmellosen Kleid mit der weißen Halskrause sinnend die
Klostergänge durchschreitet. Wie ein Musiker sieht er aus, ein wenig einem
Frühbild des jungen Mozart ähnlich, und so schildern ihn auch die
Stubengenossen am liebsten. »Er spielte die Violine – seine regelmäßige
Gesichtsbildung, der sanfte Ausdruck seines Gesichts, sein schöner Wuchs,
sein sorgfältiger reinlicher Anzug und jener unverkennbare Ausdruck des
Höheren in seinem ganzen Wesen sind mir immer gegenwärtig geblieben.«
Man kann sich auf diese weiche Lippe kein derbes Wort, in dies schwärmende
Auge keine unreine Gier, in diese edelgeschwungene Stirn keinen niederen
Gedanken denken, freilich auch keine rechte Heiterkeit in die aristokratisch
zarte Verhaltenheit dieser Züge, und so, ganz in sich verborgen, scheu in sich
zurückgedrängt, schildern ihn auch seine Gefährten: daß er niemals mindrer
Geselligkeit sich mengte, nur im Refektorium mit Freunden schwärmerisch
die Verse Ossians, Klopstocks und Schillers liest oder in Musik seinen
sehnenden Überschwang entlastet. Ohne stolz zu sein, schafft er um sich eine
unmerkbare Distanz: wenn er schlank, aufrecht, gleichsam einem Höheren,
Unsichtbaren entgegen aus der Zelle unter die anderen tritt, ist ihnen, »als
schritte Apoll durch den Saal«. Selbst den Amusischen, den kleinen
Pfarrerssohn und späteren Pfarrer, der dies Wort verzeichnet, gemahnt
Hölderlins Wesen unbewußt an Hellas, an die heimliche griechische Heimat.
Aber einen Augenblick nur tritt so hell, gleichsam umleuchtet von einem
Sonnenstrahl des geistigen Morgens, sein Antlitz aus dem Gewölk seines
Schicksals, göttlich aus Göttlichem hervor. Aus den Mannesjahren ist uns
kein Bildnis mehr überliefert, gleichsam als wollte das Schicksal uns
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199