Seite - 111 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Lebensplan
Alles liegt in mir verworren wie die
Wergfasern im Spinnrocken.
Aus einem Jugendbrief
Kleist hat dieses Chaos seines Gefühls früh in sich gefühlt. Der Knabe
schon und viel stärker dann der zwanzigjährige Gardeoffizier spürt schon halb
unbewußt den innern übermächtigen Schwall des Gefühls gegen die enge
Welt. Aber er meint, diese Verwirrung und Befremdung sei nur Gärung der
Jugend, unglückliche Einstellung ins Leben und vor allem Mangel an
Vorbereitung, an System, an Erziehung. Und wahrhaft fürs Leben erzogen
war Kleist ja niemals worden: aus dem verwaisten Elternhaus kommt er in
eines emigrierten Predigers Zucht, dann in die Kadettenschule, wo er
Kriegskunst lernen soll, indes seine heimlichste Neigung Musik ist, dieser
erste Ausbruch seines Gefühls ins Unendliche. Aber nur heimlich ist es ihm
gestattet, die Flöte zu spielen (meisterlich soll er sie gehandhabt haben),
tagsüber hat er Kommißdienst in dem harten preußischen Heere, Exerzierfron
auf den öden Sandkarrees seiner Heimat. Und der Feldzug von 1793, der ihn
schließlich in einen wirklichen Krieg wirft, ist der jämmerlichste, kläglichste,
langweiligste, unheroischeste der deutschen Geschichte. Nie hat er seiner wie
einer Kriegstat Erwähnung getan: einzig in einem Gedicht an den Frieden
atmet er seine Sehnsucht aus, dieser Sinnlosigkeit zu entrinnen.
Der Waffenrock drückt ihm zu eng die aufgeweitete Brust. Er fühlt in sich
Kräfte gären und fühlt auch, daß sie aus ihm nicht wirksam in die Welt treten
könnten, solange er sie nicht zu disziplinieren weiß. Niemand hat ihn erzogen,
niemand ihn belehrt: so will er sein eigener Pädagog sein, sich »einen
Lebensplan zimmern« oder, wie er sagt, »richtig leben«; und da er ein Preuße
ist, so muß sein erster Gedanke der einer Ordnung sein. Er will Ordnung in
sich schaffen, »richtig leben«, nach Prinzipien, nach Ideen, nach Maximen,
und er glaubt, er könne dies Chaos in sich durch eine geregelte, eine
schematische, eine gemäße Existenz zähmen, um »in ein konventionelles
Verhältnis zur Welt zu kommen«. Sein Grundgedanke ist: jeder Mensch
müsse einen Lebensplan haben, und dieser Wahn läßt ihn fast bis an sein
Lebensende nicht mehr los. »Ein freier denkender Mensch bleibt da nicht
stehen, wo der Zufall ihn hinstößt … er fühlt, daß man sich über sein
Schicksal erheben könne, ja, daß es im richtigen Sinn selbst möglich sei, das
Schicksal zu leiten. Er bestimmt nach seiner Vernunft, welches Glück für ihn
das höchste sei, er entwirft sich seinen Lebensplan … Solange ein Mensch
noch nicht imstande ist, sich selbst einen Lebensplan zu bilden, solange ist
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199