Seite - 193 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Der Tanz über dem Abgrund
Wenn du lange in einen Abgrund
blickst, blickt auch der Abgrund in
dich hinein.
Die fünf Monate des Herbstes 1888, Nietzsches letzte bildnerische Zeit,
stehen einzig da in den Annalen schöpferischer Produktivität. Vielleicht ist
nie in einem so engen Zeitraum von einem einzigen Genius so viel, so
intensiv, so ununterbrochen, so hyperbolisch und radikal gedacht worden; nie
war ein irdisches Gehirn so überströmt von Ideen, so durchschossen von
Bildern, so umwogt von Musik als dies schon vom Schicksal gezeichnete. Für
diese Fülle, für diese rauschhaft niederstürzende Ekstase, für diesen
fanatischen Furor des Schaffens hat die Geistesgeschichte aller Zeiten kein
Gegenspiel in ihrer unendlichen Weise – nur im Nächsten vielleicht noch, im
gleichen Jahr, unter gleichem Himmelsstrich erlebt ein Maler gleich
aufgepeitschte, schon in den Wahnsinn hineingejagte Produktivität: im Garten
von Arles und in der Irrenanstalt malt van Gogh mit gleicher
Geschwindigkeit, mit der gleichen ekstatischen Lichtbesessenheit, mit der
gleichen manischen Schaffensüberfülltheit. Kaum hat er eines seiner
weißglühenden Bilder vollendet, so fährt sein fehlerloser Strich schon über
neue Leinwand, es gibt da kein Zögern, kein Planen mehr, kein Überlegen.
Schöpfung ist Diktat geworden, dämonische Hellsichtigkeit und
Schnellsichtigkeit, eine ununterbrochene Kontinuität der Visionen. Freunde,
die van Gogh vor einer Stunde verlassen haben, staunen bei ihrer Rückkehr,
von ihm schon ein neues Bild vollendet zu sehen, und schon beginnt er mit
nassem Pinsel, mit erhitzten Augen, ohne abzusetzen, das dritte: der Dämon,
der ihn an der Kehle hat, duldet kein Atemholen, keine Intervalle,
gleichgültig, ob er, der rasende Reiter, den keuchenden und glühenden Leib
unter sich zuschanden hetzt. Genauso schafft Nietzsche Werk auf Werk,
pausenlos, atemlos, in der gleichen, nicht mehr wieder dagewesenen
Helligkeit und Schnelligkeit. Zehn Tage, vierzehn Tage, drei Wochen: das
sind die Dauer seiner letzten Werke – Zeugung, Austragung, Gebärung,
Entwurf und endgültige Gestaltung, das zuckt schußartig ineinander. Es gibt
da keine Inkubationsfrist, keine Ruhepausen, kein Suchen, kein Tasten, kein
Verändern und Korrigieren, alles ist gleich makellos, definitiv,
unveränderlich, heiß und ausgekühlt zugleich. Nie hat ein Gehirn so dauernde
Hochspannung so elektrisch weitergetragen bis ins letzte zuckende, Wort, nie
haben mit so magischen Geschwindigkeiten Assoziationen sich gegliedert;
Vision ist zugleich schon Wort, Idee vollendete Klarheit, und trotz dieser
gigantischen Fülle spürt man nichts von Mühe, von Anstrengung – Schaffen
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199