Seite - 87 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Purpurne Finsternis
Zwar
Es leuchten auch im Dunkel blühende Bilder.
Die großen orphischen Gedichte, die der geistig Geblendete in jenen Jahren
der Dämmerung und der Dunkelheit schafft, seine »Nachtgesänge«, gehören
zu den unerhörtesten Gebilden der Weltliteratur, vergleichbar in ihrer und
aller Zeit vielleicht nur jenen prophetischen Büchern William Blakes, jenes
anderen Himmelskindes und Gottvertrauten, den seine Zeitgenossen
gleichfalls einen »unfortunate lunatic« nannten, »whose personal
inoffensiveness secures him from confinement«. Hier wie dort ist Schaffen
ein magisches Bilden nach dämonischem Diktat, hier wie dort horcht ein
kindlich unklarer Sinn über die offenbare Bedeutung des Wortes nach dem
orphischen Urlaut. Dichtung (und bei Blake auch Zeichnung) wird im
Dämmerzustand des Herzens zur Pythik: wie die Priesterin, trunken von
unerhörten Gesichten über den gestaltenden Dämpfen der delphischen
Schlucht, Worte jener Tiefe in zuckenden Krämpfen stammelt, so wirft hier
der gestaltende Dämon aus einem erloschenen Krater des Geistes feurige
Lava und funkelndes Gestein. In diesen dämonischen Gedichten Hölderlins
redet nicht die irdische Verständigung, die Nutzsprache, die Menschenrede
mehr. In eine apokalyptische Sphäre ist der Seher gestellt:
Tal und Ströme sind
Weit offen um prophetische Berge,
Daß schauen mag bis in den Orient
Der Mann und ihn von dort der Wandlungen viele bewegen.
Vom Äther aber fällt
Das treue Bild, und Göttersprüche regnen
Unzählbar von ihm, und es tönt im innersten Haine.
Aus Traumrede ist melodisches Verkünden geworden, »Tönen vom
innersten Haine«, Stimme vom Jenseits, Wille über dem eigenen Willen: nicht
mehr Sprecher und Täter ist hier der Dichter, sondern nur unbewußter Bote
der Urworte. Der Dämon, der Urwille hat übergewaltig dem müd
gewordenen Geist das Wort und den Willen entrissen. Der wache Mensch, der
einstige Friedrich Hölderlin, ist fort, »nicht mehr dabei«: gleich einer leeren
Larve bedient sich der Dämon seiner unwissenden Gestalt.
Denn diese Nachtgesänge, diese abgerissenen seherisch-improvisatorischen
Fragmente des Halbwahnsinnigen, sie stammen nicht mehr aus der irdisch
umleuchteten Sphäre der Kunst, aus dem Kommensurablen: sie sind
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199