Seite - 46 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
Bild der Seite - 46 -
Text der Seite - 46 -
Ausfahrt in die Welt
Oft schläft, wie edles Samenkorn
Das Herz der Sterblichen in toter Schale,
Bis ihre Zeit gekommen ist.
Wie in ein feindliches Land tritt Hölderlin aus der Schule in das Leben.
Noch im rollenden Postwagen schreibt er – symbolisch genug! – jenen
Hymnus »Das Schicksal«, an die »Mutter der Heroen, die eherne
Notwendigkeit«. In der Stunde der Ausfahrt ist der magisch Ahnungsvolle
schon gerüstet für den Untergang.
In Wahrheit ist alles für ihn auf das beste bereitet. Kein Geringerer als
Schiller hat ihn, da der Vikariatskandidat den mütterlichen Wunsch, Pfarrer zu
werden, unbedingt verweigert, als Hauslehrer bei Charlotte von Kalb
vorgeschlagen; kaum irgendwo in den dreißig Provinzen des damaligen
Deutschland kann der vierundzwanzigjährige Schwärmer ein Haus erhoffen,
wo dichterischer Enthusiasmus so geehrt, nervöse Empfindlichkeit und
Schüchternheit des Herzens so sehr verstanden werden könnte als bei
Charlotte, die selbst eine »unverstandene Frau« war und als frühere Geliebte
Jean Pauls für eine sentimentalische Natur volles Verständnis haben mußte.
Der Major kommt ihm freundlich entgegen, der Knabe mit inniger
Anhänglichkeit, die Morgenstunden werden ihm vollkommen für seine
dichterische Produktion freigegeben, Spaziergänge und gemeinsame Ausritte
lassen ihn die geliebte und lang entbehrte Natur wieder nahe empfinden, und
bei Ausflügen nach Weimar und Jena führt ihn die vorsorgliche Frau in
edelsten Kreis: er darf Schiller und Goethe kennenlernen. Ein vorurteilsloses
Gefühl kann nicht zögern, einzugestehen, daß Hölderlin nicht besser geborgen
sein konnte. Seine ersten Briefe schwellen auch über von Enthusiasmus, ja
selbst von einer ungewohnten Heiterkeit: scherzend schreibt er der Mutter,
»seit er keine Sorgen und Grillen mehr habe, beginne er dick zu werden«,
rühmt die »zuvorkommende Gefälligkeit« seiner Freunde, die des kaum
begonnenen Hyperion erste Bruchstücke in Schillers Hand und damit der
Öffentlichkeit übergeben. Einen Augenblick lang hat es den Anschein, als sei
Hölderlin beheimatet in der Welt.
Aber bald hebt sich die dämonische Unruhe in ihm empor, jener
»furchtbare Geist der Unrast«, der ihn »wie Wasserflut auf Bergesgipfel«
treibt. Aus den Briefen beginnt eine leichte Verdüsterung zu sprechen, Klagen
über die »Abhängigkeit«, und plötzlich bricht die Ursache hervor: er will fort.
Hölderlin kann nicht in einem Amt, in einem Beruf, in einem Kreise leben:
jede andere als eine poetische Existenz ist ihm unmöglich. Noch mag es ihm
46
Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199