Seite - 97 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Der Gejagte
Ich bin dir wohl ein Rätsel.
Nun tröste dich; Gott ist es mir.
Die Familie Schroffenstein
Es gibt keine Windrichtung Deutschlands, in die er, der Ruhelose, nicht
gefahren ist, es gibt keine Stadt, in der er, der ewig Heimatlose, nicht gehaust
hat. Fast immer ist er unterwegs. Von Berlin saust er mit der rollenden
Postkutsche nach Dresden, ins Erzgebirge, nach Bayreuth, nach Chemnitz,
plötzlich jagt es ihn nach Würzburg, dann fährt er quer durch den
napoleonischen Krieg nach Paris. Ein Jahr will er dort bleiben, aber schon
nach wenigen Wochen flüchtet er in die Schweiz, wechselt Bern mit Thun,
und Basel wieder mit Bern, fällt jählings wie ein geschleuderter Stein in
Wielands stilles Haus zu Oßmannstedt. Und über Nacht treibt es ihn wieder
fort, nochmals rennt er auf heißen Speichen über Mailand und die
italienischen Seen nach Paris, stürzt sich sinnlos nach Boulogne mitten in eine
fremde Armee und wacht dann plötzlich todkrank in Mainz auf. Und wieder
wirft es ihn hinüber nach Berlin, nach Potsdam: ein Jahr lang nagelt ihn, den
Unbeständigen, ersehntes Amt in Königsberg an, dann bricht er wieder los,
will quer durch die marschierenden Franzosen nach Dresden, wird aber als
vermeintlicher Spion nach Châlons geschleppt. Kaum befreit, flirrt er im
Zickzack durch die Städte, stürmt von Dresden, mitten im österreichischen
Krieg, nach Wien, wird bei Aspern während der Schlacht verhaftet und rettet
sich nach Prag. Manchmal verschwindet er monatelang wie ein unterirdischer
Fluß, taucht tausend Meilen weiter wieder auf: schließlich schleudert die
Schwerkraft den Gejagten zurück nach Berlin. Ein paarmal zuckt er mit
zerbrochenem Flügel noch hin und her, ein letztes Mal tastet er hinüber nach
Frankfurt, bei der Schwester, bei den Verwandten ein Dickicht zu finden vor
dem furchtbaren Jäger, der hinter ihm hetzt. Aber er findet keine Rast. So
steigt er zum letztenmal in den Reisewagen (sein wahres, sein einziges Haus
in all den vierunddreißig Jahren) und fährt hinaus an den Wannsee, wo er sich
die Kugel in den Kopf schmettert. An einer Landstraße ist sein Grab.
Was treibt Kleist auf diesen Reisen? Oder vielmehr: was treibt ihn? Hier
hilft keine Philologie: seine Reisen sind fast alle im letzten ganz sinnlos, sie
haben keine Zwecke und kaum auch nur bestimmte Ziele. Sachlich sind sie
nicht zu erklären. Was biedere Forschung da Gründe nennt, sind meist nur
Vorwände, künstliche Masken vor dem Antlitz des Dämons. Nüchternen
bleibt dieser ahasverische Trieb ewig rätselhaft: es ist darum auch kein Zufall,
daß er dreimal als Spion verhaftet wird. In Boulogne rüstet Napoleon zur
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199