Seite - 115 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Ehrgeiz
Ach, es ist unverantwortlich, den Ehrgeiz in uns
zu erwecken – einer Furie zum Raube sind wir
hingegeben.
Aus einem Brief
Wie aus einem Gefängnis stürmt Kleist in das gefährlich Grenzenlose der
Dichtung hinein. Endlich eröffnet sich seinem gärenden Drang Möglichkeit
der Entladung; die eingeengte Phantasie kann sich zerteilen in Gestalten,
verströmen im schwelgenden Wort. Aber einem Kleist wird nichts zur Lust,
weil er kein Maß kennt. Kaum daß er das erste Werk beginnt, kaum daß er
wagt, sich als Gestalter, als Dichter zu fühlen, will er schon sofort der größte,
herrlichste, der gewaltigste Dichter aller Zeiten sein und stellt bereits an sein
Erstlingswerk den frevlerischen Anspruch, die großartigsten Werke der
Griechen und der Klassik zu übertreffen. Mit dem ersten Ansprang alles
erreichen; damit ist jene Kleistische Übertreibung nun ins Literarische
pervertiert. Andere Dichter beginnen zaghaft mit Hoffnungen und Träumen,
mit Versuchen und Bescheidungen; Kleist aber, ständig in Superlativen
lebend, verlangt vom ersten Versuch gleich das Unerreichbare. Sein
»Guiskard«, den er (nach seinem fast traumwandlerischen Frühwerk, den
Schroffensteinern) beginnt, soll, ja muß die mächtige Tragödie aller Zeitalter
sein. Mit einem Ruck will er in die Ewigkeit hinein; nie hat die Literatur eine
titanischere Vermessenheit gekannt als Kleistens Forderung nach
Unsterblichkeit gleich mit dem ersten Ausbruch seiner Kraft. Jetzt erst sieht
man,wieviel Hochmut in dem überheizten Kessel seiner Brust heimlich
verschlossen war: in dampfenden Worten zuckt und zischt er heraus. Wenn
ein Platen von Odysseen und Iliaden faselt, die er schaffen will, so ist das
ungläubige Selbstbeschwätzung einer schwachen Natur. Aber Kleisten ist es
ehern ernst mit seinem Wettstreit wider die Götter des Geistes; wenn ihn eine
Leidenschaft packt, so treibt er sie (und sie wiederum ihn) ins Maßlose, und
von dieser Stunde der Klarheit über seine Mission wird der Ehrgeiz zur fast
tödlichen Aufbietung seines ganzen Seins. Seine Hybris ist lebenswahr,
todeswahr, als er sich nun, ein Desperado des Lebens, in trotziger
Herausforderung der Götter an ein Werk wirft, das (wie er Wieland
suggeriert) »die Geister des Äschylos, Sophokles und Shakespeare« in sich
vereinigen soll. Immer setzt Kleist sein Ganzes auf eine Karte. Und von nun
ab heißt sein Lebensplan nicht mehr leben und richtig leben, sondern
Unsterblichkeit.
Kleist beginnt sein Werk im Spasma, in der letzten Entzückung und
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199