Seite - 13 - in Kreuzenstein - Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
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Doch nicht ephemer wie etwa in einem Festzug oder Tableau vi
vant, sondern dauerhaft. Ausschnittartig sollte » Mittelalter « in
Kreuzenstein wie in einem dreidimensionalen Historienbild oder
Panorama, in Permanenz wieder lebendig werden – die nicht nur
begriffliche Nähe zur sich formierenden zeitgenössischen Mas
senkultur, die in den frühen Vergnügungsparks eine virtuelle
Reise durch Zeit und Raum suchte, ist evident. Es sind die Jahre,
in denen H. G. Wells in seinem Science Fiction Roman The Time
Machine ( 1895 ) ein Gerät beschreibt, mit dem man durch die
vierte Dimension in die Zukunft reisen kann.2 Kreuzenstein ist
eine solche Zeitmaschine, mit der bis heute eine virtuelle Reise
in die Vergangenheit möglich ist.
Die Passagiere dieser Zeitmaschine waren von Anfang an zahl
reich. Durch die Nähe zur Großstadt Wien konnte der Bauherr
ein großes Publikum erreichen und während einer kurzen Reise
zurück in ein virtuelles Mittelalter mit seiner Sicht auf die Ver
gangenheit belehren. Der Idee etwa, eine Exkursion nach Kreu
zenstein in den offiziellen Lehrplan der Schulen aufzunehmen,
konnte Graf Wilczek erwartungsgemäß Einiges abgewinnen.3
Doch auch unabhängig davon wurde die Burg schon früh zum Ziel
von Schulausflügen 〚2 〛, und bis heute wird hier vor allem Kin
dern aus Wien und Niederösterreich plastisch vorgeführt, » wie
es eigentlich gewesen « – unbekümmert des Umstands, dass die
ser Vermittlungsarbeit ein Geschichtsbild des 19. Jahrhunderts
zugrunde liegt. Auch der Philosoph Ludwig Wittgenstein führte
in der ersten Hälfte der Zwanzigerjahre, während seiner Zeit als
Volksschullehrer, seine Schüler nach Kreuzenstein, um dort den
Unterricht über mittelalterliche Architektur, die » Ritterburg «,
das Leben im Mittelalter und die Nibelungen anschaulich wer
den zu lassen ;4 zeitgenössische Schulwandtafeln zeigten dement
sprechend die Burg als Lehrbeispiel mittelalterlicher Architektur.5
Hier wird exemplarisch deutlich, in welchem Ausmaß die heutige,
populäre Vorstellung vom Mittelalter durch das 19. Jahrhundert
geprägt ist ; Kreuzenstein zu analysieren heißt also auch, zu den
Wurzeln unserer heute gültigen Mittelalterbilder vorzudringen.
Das neue Interesse am Mittelalter, das sich im 19. Jahrhun
dert nicht zuletzt in zahlreichen Bau und Restaurierungspro
jekten mittelalterlicher Burganlagen spiegelte, hat seinen Ur
sprung im Gefolge der tiefen gesellschaftlichen Verwerfungen,
die ökonomische Umwälzungen und politische Revolutionen
in der zweiten Hälfte und verstärkt am Ende des 18. Jahrhun
derts in weiten Teilen Europas hinterlassen hatten. Abseits sei
ner historischen Faktizität ist das Mittelalter damit auch ein Pro
dukt der Moderne ; der Begriff bezeichnet in diesem Buch jenes
von der Aufklärung eingeleitete Zeitalter radikaler Brüche und 13
Kreuzenstein
Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Kreuzenstein
- Untertitel
- Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
- Autor
- Andreas Nierhaus
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79557-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 258