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hi s torischen Bewußtsein « vorhanden, wohl aber » eine ganze
Reihe völlig unterschiedlicher Mittelalterkonzepte «.34 Dass im
weiteren Verlauf auch der Begriff, den sich das 19. Jahrhundert
vom » Mittelalter « machte, keineswegs einheitlich war, zeigt sich
schon bei einem Blick in die allgemeinen Nachschlagewerke je
ner Zeit. So wird bereits im » Brockhaus « von 1839 mit überra
schend deutlichen Worten vor einer naiven Begeisterung für das
Mittelalter gewarnt : » Die Verhältnisse und Bedeutung des Mit
telalters waren und sind noch vor andern geschichtlichen Zustän
den ebenso Gegenstand der Geringschätzung wie der Überschät
zung [ … ]. Das Mittelalter hat seine Früchte getragen und liegt
abgethan hinter uns ; seine Wiederbelebung könnte nur wün
schenswerth sein, wenn von Neuem jene Verwilderung über die
Menschheit hereinbrechen wollte, aus der es hervorging und die
es, obgleich mit großen Opfern, überwinden half. «35 Das Pathos,
mit dem das Mittelalter für die eigene Gegenwart in den Dienst
genommen wurde, zeigt sich dagegen zwanzig Jahre später in
» Pierer’s Universal Lexikon « von 1860, wo die Rede vom » ger
manischen « Mittelalter – als einer Legitimation für die nationa
listische Ausdeutung der Epoche – vorherrscht : » Im Allgemeinen
zeigt das Mittelalter ein Vorwalten der rohen, der persönlichen
Kraft, des Gefühls, der Abenteuerlichkeit, der Schwärmerei, ei
ner gewissen gesteigerten und vergeistigten Sinnlichkeit. Wäh
rend sich in Europa auf den Trümmern des Römischen Reichs die
politische Welt der Germanen, des wichtigsten Volks des ganzen
Zeitraums, erhob, verbreiteten die Araber ihre Macht im Orient
[ … ]. «36 In » Meyers Konversations Lexikon « von 1908 werden
schließlich Zweifel laut, ob überhaupt noch vom » Mittelalter «
gesprochen werden dürfe : » Neuerdings hat man gegen die Be
zeichnung Mittelalter sowohl wie gegen die damit zusammen
hängende Periodisierung des geschichtlichen Stoffes mehrfach
theoretische und praktische Einwendungen erhoben, ohne daß
es gelungen wäre oder voraussichtlich gelingen wird, sie wirk
lich aus der Praxis zu verdrängen. «37
Die mit dem Rückgriff auf das Mittelalter zwingend verbun
dene Konstruktion spezifischer, zeitlich und örtlich unterschied
licher Mittelalterbilder wird in der englischsprachigen Forschung
unter dem Begriff » Medievalism « subsumiert, ohne dass sich da
für eine adäquate deutsche Übersetzung gefunden hätte.38 » Me
dievalism « geht – in Analogie zum Begriff » Orientalism « – von der
Prämisse aus, dass die gängige Vorstellung, die ein Zeitabschnitt
vom Mittelalter entwickelt, nicht nur aus Imaginationen und Fik
tionen, sondern ganz wesentlich auch aus Projektionen des eige
nen historischen und kulturellen Standpunkts auf den beleuch
teten Gegenstand besteht. 23
Kreuzenstein
Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Kreuzenstein
- Untertitel
- Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
- Autor
- Andreas Nierhaus
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79557-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 258