Seite - 75 - in Kreuzenstein - Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
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nach Kreuzenstein musste vorbereitet werden : » Die Speicher in
den Schlössern Seebarn und Tresdorf waren angefĂĽllt mit WerÂ
ken der Plastik und Malerei, mit gotischen Möbeln und den ArbeiÂ
ten deutscher Handwerker in allen möglichen Techniken. Wie in
Kaufläden des Mittelalters standen Reihen alter Gläser, Tonkrüge
und Zinnkannen hintereinander, dann wieder unzählige Folgen
von gotischem TĂĽrbeschlag, altem Werkzeug, alchimistischen
Retorten usw. «257 Nun galt es nicht mehr allein, eine exquisite
Sammlung aufzubauen – diese bestand ja in ihren wesentlichen
Teilen bereits – sondern jene breite Masse an Objekten zu akquiÂ
rieren, die zur Ausstattung einer mittelalterlichen Burg notwenÂ
dig war. So erwarb Wilczek fĂĽr die im obersten GeschoĂź des Palas
gelegenen vierzehn Schlafzimmer » in wenigen Wochen aus den
entlegensten Bergtälern Tirol’s « ebenso viele Betten des 15. und
16. Jahrhunderts, und dreißig mittelalterliche Truhen wurden –
fĂĽr 40 Mark pro StĂĽck – im ThĂĽringer Wald erworben.258 Dass anÂ
gesichts dieser Zahlen Quantität vor Qualität gestellt wurde, verÂ
steht sich von selbst. Zugleich aber lag genau dies im Anspruch
Wilczeks begrĂĽndet, mit Kreuzenstein weniger ein kunsthistoriÂ
sches, als vielmehr ein » kulturgeschichtliches Bild « des MittelalÂ
ters zu entwerfen, wie Alois Riegl zur selben Zeit die gängige ReÂ
konstruktions bzw. historisierende Vergegenwärtigungs praxis
charakterisierte.259 Ein genuin kulturgeschichtlicher Zugang ist
in der ganzen Breite des Wilczekschen Sammelns – und damit in
seinem Konzept von Geschichte – zu erkennen.
Wilczek beschränkte sich also keineswegs auf das Sammeln
hochkarätiger mittelalterlicher Kunst, sondern versuchte, die
ganze Lebensrealität des Mittelalters, wie sie sich ihm darstellte
– von der Banalität des täglichen Essgeschirrs bis hin zum bedeuÂ
tenden Kunstwerk – in umfassender Weise durch materielle ReÂ
likte zu dokumentieren und durch die Präsentation auf KreuzenÂ
stein dieses imaginäre Mittelalter künstlich wiederherzustellen.
Die traditionellen Grenzen zwischen den Sammelgebieten spielÂ
ten dabei keine Rolle ; Wilczek sammelte – ähnlich wie zur selben
Zeit Albert Figdor in Wien – mit derselben Begeisterung Möbel,
Hausrat, Tafelbilder, Skulpturen, Waffen, Türbeschläge, Grafik,
Musikinstrumente, orientalische Teppiche und Turnierkleider.
Der Bestand an mittelalterlicher Tafelmalerei war ehemals beÂ
deutend, darunter befanden sich Werke von Jean Fouquet, Rogier
van der Weyden, Konrad Witz, Lucas Cranach d. Ă„. und Bernhard
Strigel.260 〚 27 – 30 〛 Allerdings trennte sich Wilczek noch zu LebÂ
zeiten aus unbekanntem Grund von einigen seiner wertvollsten
Bilder. Dagegen ist mit den Glasgemälden ein fĂĽr den GesamteinÂ
druck der Innenräume von Kreuzenstein wesentlicher SammÂ
lungsbestand heute noch zum GroĂźteil in situ vorhanden.261
75Der
Sammler
Kreuzenstein
Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Kreuzenstein
- Untertitel
- Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
- Autor
- Andreas Nierhaus
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79557-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 258