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26 | Cultural Governance in Österreich
hen davon aus, dass sich politische Entscheidungsfragen, die ein Kollektiv be-
treffen, „grundsätzlich mit Argumenten entscheiden [lassen], wenn alle Parteien
bereit sind, die Perspektive des jeweils anderen einzunehmen, um den Konflikt
im gleichmäßigen Interesse aller Seiten zu regeln“ (Habermas, Foessel, 2015).
Neben der Zulassung von Argumenten bzw. der Zulassung jener Menschen zu
Aushandlungsprozessen, die Argumente vorzutragen haben, sind Plausibilität,
Kritisierbarkeit und die Bereitschaft, die jeweiligen Perspektiven einzunehmen,
konstitutiv für die kommunikative Rationalität (Habermas, 1981, 1995).
Die Sozialisationstheorie nach Herbert Mead beschreibt, wie Individuen über das
Prinzip der Einstellungsübernahme Institutionen der Gemeinschaft in ihr eigenes
Verhalten integrieren (Mead, 1934). Jürgen Habermas, der die Sozialisationsthe-
orie Meads rezipiert hat, ergänzt in der Theorie des kommunikativen Handelns
(Habermas, 1981) den Aspekt, dass Urteile – auch, wenn sie als soziale Normen
breit akzeptiert bzw. institutionalisiert sind – kritisiert werden können bzw. in
Aushandlungsprozessen argumentativ begründet werden müssen. Das Ideal der
kommunikativen Rationalität setzt gleiche Beteiligungsmöglichkeiten voraus,
fordert Kritisierbarkeit und Plausibilität von Argumenten ein und zielt auf kom-
munikativ erzeugtes Einverständnis (im Unterschied zu erzwungenen Entschei-
dungen). Aushandlungsprozesse sind somit nie fertig oder perfekt – ein einmal
gefälltes Urteil kann wieder in Frage gestellt werden. Die Voraussetzung dafür
ist jedoch, dass Individuen und Gruppen gleiche Chancen haben, Dialog zu initi-
ieren bzw. sich am Dialog zu beteiligen und ihre Positionen und Argumente ak-
tiv begründen können. Verkürzt zusammengefasst: während sich Habermas auf
die Frage der Verfahrensgerechtigkeit bezieht, bezieht sich John Rawls auf die
Frage der Ergebnisgerechtigkeit. Rawls betont dabei die Frage der Wahrneh-
mung von Gerechtigkeit (Rawls, 1975). Was als gerecht empfunden wird, ist je-
doch nicht universal gültig, kein Rationalitätsstandard, sondern beruht auf dem
Prinzip der Akzeptanz eines Urteils beziehungsweise dem Schließen eines Kom-
promisses. Es geht demnach darum, die Entscheidungen in ihren Legitimations-
zusammenhang zu stellen und zu analysieren, ob sie „von den Betroffenen als
gerecht empfunden werden oder nicht“ (Wegener, 1992: S. 269). Dies rückt die
Situiertheit, Fragilität und Kontingenz von Entscheidungen als momentane Sta-
bilisierungen (Ergebnisse) kontinuierlicher Aushandlungsprozesse in den Fokus.
Die Soziologen Luc Boltanski und Laurent Thévenot beschäftigen sich ebenfalls
mit der Frage, wie Menschen in konfliktträchtigen Situationen ihr Handeln recht-
fertigen, um Akzeptanz und potentiell Einigkeit zu erzielen (Boltanski, Théve-
not, 2006, 2014). Boltanski und Thévenot haben über eine Analyse von kanoni-
Cultural Governance in Österreich
Eine interpretative Policy-Analyse zu kulturpolitischen Entscheidungsprozessen in Linz und Graz
- Title
- Cultural Governance in Österreich
- Subtitle
- Eine interpretative Policy-Analyse zu kulturpolitischen Entscheidungsprozessen in Linz und Graz
- Author
- Anke Simone Schad
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4621-8
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 322
- Keywords
- Political Science and International Studies, Kulturpolitik, Linz, Graz, Europäische Kulturhauptstadt, Demokratie, Cultural Governance, Österreich, Kultur, Kommunalpolitik, Politikwissenschaft, Politik
- Category
- Recht und Politik
Table of contents
- Abstract 7
- Gliederung des Buches 9
- 1 Prolog zu Cultural Governance: Doing Politics – Making Democracy? 11
- 2 Kultur, Öffentlichkeit und Politik: eine Annäherung 31
- 3 Theoretische Situierung von Cultural Governance 43
- 4 Lokale Situierung der Analyse in Österreich 87
- 5 Methodologische Situierung der Cultural-Governance-Analyse 109
- 5.1 Interpretative Policy-Analyse 109
- 5.2 Fokus auf die Situation 112
- 5.3 Positionierung, Perspektiven und Grenzen des Grounded Theorizing 126
- 5.4 Materialauswahl – der Unterschied zwischen der Fallanalyse und der Situationsanalyse 130
- 5.5 Situations-Mapping: AkteurInnen, Aktanten, weitere Elemente und ihre Wechselbeziehung 140
- 6 Ergebnisse der konkreten Situationsanalyse zur Verhandlung um Kulturförderung 155
- 7 Ergebnisse der Analyse Sozialer Welten in der Arena der Cultural Governance 219
- 7.1 Die Soziale Welt der städtischen Gemeinde 219
- 7.2 Die Soziale Welt der gewählten MandatarInnen (PolitikerInnen) 226
- 7.3 Die Soziale Welt der Kulturbetriebe in der Stadt 231
- 7.4 Die Soziale Welt der MitarbeiterInnen der städtischen Kulturverwaltung 242
- 7.5 Die Soziale Welt der Beiräte 254
- 7.6 Zusammenfassende Analyse der Sozialen Welten in der Arena der Cultural Governance 268
- 7.7 Normative Kriterien für Cultural Governance 271
- 8 Abschließendes Fazit 277
- 9 Anhang 283
- Literatur 293