Page - 41 - in Cultural Governance in Österreich - Eine interpretative Policy-Analyse zu kulturpolitischen Entscheidungsprozessen in Linz und Graz
Image of the Page - 41 -
Text of the Page - 41 -
Kultur, Öffentlichkeit und Politik | 41
Anarchist, politische Aktivist und Ethnologe David Graeber deutet diese ver-
schwimmenden Grenzen zwischen dem öffentlichen und privaten Bereich, das
„allmähliche Verschmelzen von öffentlicher und privater Macht zu einer Einheit,
die überfrachtet ist mit Regeln und Vorschriften, deren letztlicher Zweck darin
besteht, Wohlstand in Form von Gewinn abzuschöpfen“, als „totale Bürokratisie-
rung“ (Graeber, 2015: S. 24). Er schildert, dass „die meisten Schlüsselinstitutio-
nen dessen, was später zum Wohlfahrtsstaat wurde“ – also auch die öffentlichen
Bibliotheken, Theater etc. –, in Europa von sozialistisch orientierten, zivilgesell-
schaftlichen Gruppen initiiert wurden. Staatliche Kräfte – Graeber bezieht sich
hier exemplarisch auf Deutschland unter Kanzler Otto von Bismarck – schufen
als Reaktion auf die Angst vor sozialistischem Aufbegehren „von oben verord-
nete Alternativen zu den kostenlosen Schulen, Arbeitervereinen, Büchereien und
Theatern“ (ibd.). Dieses Einverleiben in die staatliche Verwaltungsstruktur bei
gleichzeitiger Bereinigung von „sämtlichen demokratischen und partizipatori-
schen Elementen“ diente in der anarchistisch geprägten Interpretation Graebers
der Stabilisierung staatlicher Herrschaft (Graeber, 2015: S. 186-187).
Graeber vernachlässigt hier, dass neben sozialistischen Gruppen (und der
Aristokratie) auch bürgerliche und religiöse Gruppen kulturelle Organisationen
initiierten und etablierten. Die kritische Argumentation Graebers ist insofern
auch verkürzt, als auch die Positionierung der nichtstaatlichen zivilgesellschaft-
lichen AkteurInnen relativ, relational und veränderlich ist. Sie stehen als Kun-
dInnen in einer geschäftlichen Beziehung zum Staat und werden als BürgerInnen
angesprochen auf kulturelle und politische Teilhabe- und Bildungsmöglichkei-
ten. Als Angestellte stehen einige darüber hinaus in einer Arbeitsbeziehung mit
dem Staat als Dienstgeber oder Auftraggeber. Andere sind EmpfängerInnen von
staatlicher Unterstützung. Auf regulativer Ebene sind damit Machtasymmetrien
eingeschrieben. Auch wenn staatliche AkteurInnen aufgrund ihrer normativ-
regulativen und ökonomischen Handlungsressourcen Macht besitzen, sind indi-
viduelle PolitikerInnen und Parteien von der Gunst der BürgerInnen als Wähle-
rInnen abhängig. In demokratische Systeme sind somit Kontrollmechanismen
eingeschrieben – damit diese funktionieren, bedarf es einer Öffentlichkeit, die
sich in ein kritisches Verhältnis zum Staat setzen kann. Eine Achillesverse der
Demokratie ist, wie sich historisch gezeigt hat und gegenwärtig zeigt, die Ein-
schränkung von Meinungsfreiheit und -vielfalt durch Einzelne, eine Art poli-
tisch-diktatorische „Antipolitik“ (Arendt, 2003: S. 42).
Zusammengefasst ist Cultural Governance ein unbestimmtes, von unterschiedli-
chen ideologischen Standpunkten besetztes, „essentially contested concept“
(Gallie, 1956): Weder die Art und Weise, wie Governance – das Regieren bzw.
Cultural Governance in Österreich
Eine interpretative Policy-Analyse zu kulturpolitischen Entscheidungsprozessen in Linz und Graz
- Title
- Cultural Governance in Österreich
- Subtitle
- Eine interpretative Policy-Analyse zu kulturpolitischen Entscheidungsprozessen in Linz und Graz
- Author
- Anke Simone Schad
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4621-8
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 322
- Keywords
- Political Science and International Studies, Kulturpolitik, Linz, Graz, Europäische Kulturhauptstadt, Demokratie, Cultural Governance, Österreich, Kultur, Kommunalpolitik, Politikwissenschaft, Politik
- Category
- Recht und Politik
Table of contents
- Abstract 7
- Gliederung des Buches 9
- 1 Prolog zu Cultural Governance: Doing Politics – Making Democracy? 11
- 2 Kultur, Öffentlichkeit und Politik: eine Annäherung 31
- 3 Theoretische Situierung von Cultural Governance 43
- 4 Lokale Situierung der Analyse in Österreich 87
- 5 Methodologische Situierung der Cultural-Governance-Analyse 109
- 5.1 Interpretative Policy-Analyse 109
- 5.2 Fokus auf die Situation 112
- 5.3 Positionierung, Perspektiven und Grenzen des Grounded Theorizing 126
- 5.4 Materialauswahl – der Unterschied zwischen der Fallanalyse und der Situationsanalyse 130
- 5.5 Situations-Mapping: AkteurInnen, Aktanten, weitere Elemente und ihre Wechselbeziehung 140
- 6 Ergebnisse der konkreten Situationsanalyse zur Verhandlung um Kulturförderung 155
- 7 Ergebnisse der Analyse Sozialer Welten in der Arena der Cultural Governance 219
- 7.1 Die Soziale Welt der städtischen Gemeinde 219
- 7.2 Die Soziale Welt der gewählten MandatarInnen (PolitikerInnen) 226
- 7.3 Die Soziale Welt der Kulturbetriebe in der Stadt 231
- 7.4 Die Soziale Welt der MitarbeiterInnen der städtischen Kulturverwaltung 242
- 7.5 Die Soziale Welt der Beiräte 254
- 7.6 Zusammenfassende Analyse der Sozialen Welten in der Arena der Cultural Governance 268
- 7.7 Normative Kriterien für Cultural Governance 271
- 8 Abschließendes Fazit 277
- 9 Anhang 283
- Literatur 293