Page - 89 - in Die vielsprachige Seele Kakaniens - Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Image of the Page - 89 -
Text of the Page - 89 -
»Polykulturelle Kommunikation« 89
keine anderen Möglichkeiten der Kommunikation. Dies ist vor allem in der von
uns als »habitualisiertes Übersetzen« bezeichneten Kommunikationsform festzu
machen. Dass dabei die Kompetenz der bi bzw. multilingualen SprecherInnen
mitunter sehr stark schwankte, ist ein konstitutives Merkmal der hier diskutierten
»polykulturellen Kommunikation«. Gleichzeitig sicherte die Erlernung der zwei
ten (oder dritten) Sprache eine schnellere und bessere Integration in die urbane
(Arbeits )Gesellschaft (»integrative Zweisprachigkeit«), wozu nicht zuletzt auch
die Bemühungen der MigrantInnen, schon vor dem Arbeitsantritt bei Verwand
ten Grundkenntnisse in der Zweitsprache zu erwerben, beitrug. In jedem Fall
jedoch handelte es sich bei dieser Verständigungstechnik um den Typus einer
asymmetrischen Zweisprachigkeit, die von den DienstbotInnen, Handwerkern und
anderen im Rahmen eines hierarchischen Gefälles erlernt wurde. Die SprecherIn
nen bedienten sich zumeist einer der in der Monarchie weniger prestigeträchtigen
Sprachen, während die erlernte Sprache (zumeist Deutsch) – wenn auch unaus
gesprochen – als »Staatssprache« angesehen wurde ; Rindler Schjerve bezeichnet
diesen sprachlichen Zustand als »funktionale Asymmetrie« (1997 : 18), die die
Herrschaftsstrukturen der involvierten Gruppen in der relevanten gesellschaftli
chen Konstellation widerspiegelt. Die Beteiligung an Herrschaft und Macht ist
demnach auch (bzw. gerade !) am Sprachgebrauch deutlich erkennbar.
Wie erwähnt, kann Multilinguismus – zumeist subjektiv empfunden – zu
umfassenden menschlichen Beziehungen, aber in Verbindung damit auch zu
komplexen Denk und Bewusstseinsprozessen führen, die nicht nur in Macht
strukturen zum Ausdruck kommen müssen. Wie etwa der Sprachphilosoph
Fritz Mauthner anmerkt, empfand er den mehr oder weniger auf oktroyierter
Mehrsprachigkeit beruhenden steten Wandel als Belastung :
Jawohl, mein Sprachgewissen, meine Sprachkritik wurde geschärft dadurch, daß
ich nicht nur Deutsch, sondern auch Tschechisch und Hebräisch als die Sprache
meiner ›Vorfahren‹ zu betrachten, daß ich also die Leichen dreier Sprachen in
meinen eigenen Worten mit mir herumzutragen hatte. (Mauthner 1918, zit. nach
Csáky 1996 : 51)75
75 Auch George Steiner ist ein Produkt der habsburgischen Mehrsprachigkeit, wie er in Nach Babel
erinnert : »Mein Vater stammt aus einer Gegend etwas nördlich von Prag und ist in Wien zur
Schule gegangen. Der Mädchenname meiner Mutter, Franzos, verrät elsässische Abstammung.
Aber die engere Heimat ihrer Familie war wohl Galizien. […] Ich bin in Paris geboren und dort
und in New York aufgewachsen. Ich habe keinerlei Erinnerung an eine ›erste‹ Sprache. Soweit ich
beurteilen kann, sind mir Englisch, Französisch und Deutsch gleich geläufig« (Steiner 1994 : 135).
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Subtitle
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Author
- Michaela Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 442
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437