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90 Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie
Das Phänomen der im habsburgischen Kontext ständig präsenten »Leichen« in
der jeweiligen individuellen und kollektiven Sprachverwendung wurde bereits
von der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts erkannt. Hugo Schuchardt
meint, dass »unter allen Fragen mit welchen die heutige Sprachwissenschaft
zu thun hat, keine von grösserer Wichtigkeit ist als die der Sprachmischung«,
denn : »es gibt keine völlig ungemischte Sprache« (Schuchardt 1884 : 3ff.). Die
im Zuge der vielfachen Migrationen hervorgerufenen sprachlichen und kultu
rellen Mischformen manifestieren sich laut Schuchardt im zentraleuropäischen
Raum besonders deutlich im »Slawo Deutschen« und »Slawo Italienischen«,
wo es zu zahlreichen Übergängen und (sprachlichen) Mittelstufen kommt, die
sich in Zweisprachigkeit und »Sprachmischung« manifestieren und beweisen,
wie verkehrt, im habsburgischen Kontext, die Auffassung von nationalen Ver
schiedenheiten als Gegensätzen ist (ibid.: 155) – ein erstaunlich frühes Beispiel
für eine Sicht von Kultur und auch von Sprache als Konstrukt, die monadische
Vorstellungen verwirft und den Blick auf durch vielfache subjektive und kol
lektive Berührungsmomente ausgelöste Hybridisierungsprozesse freilegt. Die
in der Habsburgermonarchie zum Einsatz gebrachten Sprachen befanden sich
demnach in einem dynamischen, von zahlreichen Konflikten begleiteten Ver
hältnis, das von unterschiedlichen funktionalen Interessen geleitet war und eine
Vielfalt von Lebensbereichen umfasste. Im Einzelnen handelt es sich um Prak
tiken, für die aus noch darzulegenden Gründen die Termini »habitualisiertes«
bzw. »institutionalisiertes« Übersetzen geprägt werden sollen.
»Habitualisiertes Übersetzen«
Diese Form des Übersetzens wird von den in der Gesellschaft vorherrschenden
Kräften für die Bewältigung alltäglicher Kommunikationsprobleme von jenen
(grundsätzlich anderssprachigen) Personen ungefragt verlangt, die zumeist in
gesellschaftshierarchisch sekundär gelagerten Bereichen tätig sind. Es handelt
sich dabei nicht um translatorische Praxis im engeren Sinn, vielmehr finden
im Zuge dieser Tätigkeit permanente sprachliche bzw. kulturelle Transferpro
zesse statt, die auf Zwei oder Mehrsprachigkeit beruhen und für die (zumeist
berufliche, in vielen Fällen auch Lebens ) Existenz der diese Tätigkeiten Aus
übenden konstitutiv sind. Ein kennzeichnendes Merkmal des »habitualisierten
Übersetzens« ist, dass es tendenziell einseitig zielkulturell orientiert ist und vor
rangig innerhalb mehr oder weniger stark asymmetrischer Kommunikationsbe
ziehungen stattfindet. Es ist – im Unterschied zum »institutionalisierten Über
setzen« – hauptsächlich auf mündliche Kommunikationsprozesse fixiert. Als
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Subtitle
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Author
- Michaela Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 442
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437