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96 Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie
Ausübenden des »habitualisierten Übersetzens« wurden, sind Handwerker. Für
den vorliegenden Kontext relevant sind demnach jene Handwerker, die als junge
Gesellen nach ihrem Lehrabschluss im Zuge gesellschaftlicher Mobilität und
Dynamik in die Fremde aufbrachen, um Arbeit zu suchen und Erfahrungen zu
sammeln. Als ungefragt erforderliche Kommunikationsleistung ist diese meta
phorische Form des Übersetzens für die verschiedenen lebenspraktischen Aus
formungen der vielkulturellen Monarchie, vor allem im Hinblick auf die nicht
durch Sesshaftigkeit ausgezeichnete Tätigkeit, kennzeichnend. Für viele begann
die Fremde bereits in der unmittelbaren Nachbarschaft, wenn eine ethnische
Grenze überschritten wurde oder wenn sie in eine größere Stadt kamen. Als
Motivation für den Aufbruch zur Wanderschaft zeichnete der Drang, die eigene
Lebenssituation zu verbessern sowie Lebenserfahrung und kulturelles Wissen zu
akkumulieren, ebenso verantwortlich wie der Wunsch, sich neue Fachkenntnisse
anzueignen ; dazu kam die auf Handwerker seit Jahrhunderten zutreffende Tra
dition des Wanderns (Vošahlíková 1994 : 9). Ein Bedarf des Arbeitsmarktes an
flexiblen Arbeitskräften war demnach ebenso ausschlaggebend für die kulturelle
Praxis der Handwerkermigration wie der Bildungs und Reisewillen der Gesel
len.83 Als Phänomen räumlicher Mobilität fand Migration zumeist innerhalb
komplexer sozialer Netzwerke statt, die aus verwandtschaftlichen, beruflichen,
religiösen und vor allem nachbarschaftlichen Beziehungen zusammengesetzt
waren. Die Verständigungsprozesse innerhalb dieser Netzwerke können als kon
stitutiv für die Migrationsbewegungen angesehen werden und bilden den Rah
men für die verschiedenen Ausformungen des »habitualisierten Übersetzens«.
Vor allem lebensgeschichtliche Zeugnisse geben Aufschluss über Ausmaß
und Beschaffenheit der kulturellen Praxis der Migration in ihrem ȟbersetze
rischen« Kontext. In manchen dieser Beschreibungen ist etwa explizit von ei
ner aus der Wanderschaft resultierenden Horizonterweiterung die Rede : »[Die
Reise] verhalf uns zu einem breiteren Horizont, wir machten wertvolle Erfah
rungen und lernten viele Länder und deren Lebensweisen kennen« (Leden
1994 : 262). Und so bemühte sich auch der junge, 1892 in Mähren geborene Jan
Kotal um eine Lehrstelle in Niederösterreich, um gemeinsam mit einem Hand
werk – welches, war zu diesem Zweck von zweitrangiger Bedeutung – Deutsch
zu lernen, hatte ihm doch sein Vater gesagt : »Wenn ich Deutsch gekonnt hätte,
83 Die vorliegenden Bemerkungen über die »übersetzerische« Dimension der Migration wären im
Detail vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen, ökonomischen bzw. rechtlichen Dimensi
onen zu beleuchten. Vgl. zum jüngsten Forschungsstand der historischen Migrationsforschung vor
allem Steidl (2003).
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Subtitle
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Author
- Michaela Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 442
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437