Page - 102 - in Die vielsprachige Seele Kakaniens - Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Image of the Page - 102 -
Text of the Page - 102 -
102 Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie
die dem Phänomen immanenten Austauschbeziehungen als multiperspektivisch
bezeichnet werden kann. Dies ist am deutlichsten an dem Ansinnen zukünftiger
(Groß )Bauern im nördlichen Niederösterreich zu erkennen, die die Kommuni
kation mit den eigenen Dienstboten oder SaisonarbeiterInnen in deren Sprache
als notwendig erachten – ein krasser Unterschied zur Situation des städtischen
Personals, das von Anfang an die Sprache der Dienstgeberfamilien beherrschen
musste. Aus bzw. Rückwirkungen des Kinderwechsels in der jeweiligen Kultur
sind bisher nicht ausreichend erforscht. Es ist jedoch davon auszugehen, dass
die Kinder durch ihre kürzeren oder längeren Aufenthalte in einer ihnen frem
den Umgebung in einem Ausmaß geprägt wurden, das sie die Plurikulturalität
ihres (weiter gefassten) Lebensraumes intensiver oder auch problembewusster
empfinden ließ ;89 in jedem Fall trug das Tauschkindersystem nicht nur zur Ver
dichtung der Kommunikation in den betroffenen Gebieten der Monarchie in
wesentlichem Maße bei, sondern unterlief lange Zeit hindurch die offizielle, auf
Trennung der Kulturen hinzielende Nationalitätenpolitik.90
Die hier dokumentierten Fälle kulturellen Austauschs und kultureller Trans
fers, die unter dem Begriff des »habitualisierten Übersetzens« gefasst werden,
sind in unterschiedlich ausgeprägte asymmetrische Herrschaftsverhältnisse
ein geschrieben und stehen allesamt in ihren vielfachen Ausformungen für ein
Konzept von Kultur, das durch ein komplexes Spiel von Identitätskonstruktio
nen determiniert ist. Versuche nationaler Zuordnungen schlagen in solchen von
Migrationsprozessen bestimmten Identitätsverschiebungen ebenso fehl wie das
Ansinnen scharfer Grenzziehung. Die aus zum Teil bereits hybriden Lebensräu
men abwandernden Akteure und Akteurinnen tragen nicht zuletzt durch ihre
(im späteren Leben oder durch ihre frühe Sozialisation im mehrsprachigen Dorf
erworbene) Zwei und Mehrsprachigkeit zu einer Fragmentierung sozialer bzw.
kultureller Identität bei.
89 Vgl. dazu etwa die Aussage eines ehemaligen Tauschjungen, er habe durch die Erfahrung der
Lebensgewohnheiten des slowakischen Gastdorfes seinen »Horizont erweitert« (Kos o.J., zit. nach
Fielhauer 1978 : 129).
90 In Mähren etwa sahen sich Personen mit einem solchen national »indifferenten Verhalten«, das
sich darin äußerte, dass ihre Kinder auf Wechsel geschickt oder gar eine Schule des »nationalen
Gegners« besuchten, nach dem mährischen Ausgleich mit der Sanktion konfrontiert, kein öffent
liches Amt bekleiden zu dürfen (vgl. Burger 1995 : 197). Demgegenüber wurden in den vergange
nen Jahren Stimmen laut, die den hehren Anspruch der Horizonterweiterung durch Kindertausch
infrage stellen und in einem Atemzug mit »moderner Sklaverei« nennen ; siehe Süddeutsche Zei-
tung vom 11.5.2004, zit. nach Liszka (2007 : 209). Vgl. im Kontext der Schweiz Lerch (2011 : 23).
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Subtitle
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Author
- Michaela Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 442
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437