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»Polykulturelle Translation« 155
Eine tief greifende Veränderung, mit der sich zumindest der Stellenwert der
institutionalisierten Translation wieder erheblich verbesserte, erfuhr das Redak
tionsbureau mit dem Gesetz vom 10. Juni 1869 (RGBl. 113/1869), das in un
mittelbarem Zusammenhang mit dem Ausgleich mit Ungarn von 1867 zu sehen
ist. Dieses Gesetz bestimmte, dass fortan das Reichsgesetzblatt durch das Mi
nisterium des Innern in allen landesüblichen Sprachen der Länder des Reichs
herausgegeben werden sollte. Die Ausgaben sollten in allen Sprachen gleichzei
tig erscheinen. Damit kehrte man nicht nur zur Handhabung von 1852 zurück,
dass alle Gesetze und Verordnungen in die Sprachen der einzelnen Kronländer
übersetzt werden sollten, sondern versuchte auch durch die gleichzeitige Veröf
fentlichung in allen Sprachen dem Gleichheitsgrundsatz der Nationalitäten, der
kurz davor durch Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes (1867) dekretiert worden
war, zu entsprechen. Allerdings enthielt das Gesetz keine Angaben darüber, wel
che Sprachen »landesüblich« seien ; es wurde damit implizit von der Einleitung
zum Patent von März 1849 ausgegangen. Karl Gottfried Hugelmann stellt die
Frage, ob durch die weiterhin alleinige Authentizität des deutschen Textes dem
Artikel 19 Genüge getan wurde und kommt zu dem Schluss, dass diese Ent
scheidung durch die zwingende Notwendigkeit der Vermeidung weitgehender
Verwirrung gerechtfertigt war (Hugelmann 1934 : 132). Trotzdem wird damit
einer nie als Staatssprache definierten Sprache, der deutschen, der Vorrang ge
geben – eine aus nationalpolitischen Gründen vor allem im Lichte der Ansprü
che von Artikel 19 weiterhin zu diskutierende Entscheidung.
Durch das neue Gesetz konnte man zur Rekonstruktion des Redaktionsbu
reaus schreiten und Ausschreibungen für die Neuanstellung von Redakteuren
veranlassen ; im Voranschlag für 1870 waren neben einer Vorstandsstelle sieben
Hauptredakteure und sieben Kontrollredakteure vorgesehen (vgl. AVA, 40/1,
Karton 2788, Zl. 10546/911, Beilage VII). Das bedeutete je zwei Redakteure
pro Sprache ; ins Ungarische wurden die Gesetzestexte nicht mehr übersetzt, da
nach dem Ausgleich nur mehr 9.000 Ungarn in der österreichischen Reichshälfte
siedelten ; der zweite Redakteur für Serbo Kroatisch war 1869 ausgeschieden.
Um dem im Gesetz festgeschriebenen Zeitfaktor Rechnung zu tragen
(»Sämmtliche Ausgaben des Reichsgesetzblattes sind in der Regel gleichzei
tig herauszugeben und zu versenden«, RGBl. 113/1869), wurde bestimmt, dass
jeder Gesetzesentwurf in mehrfacher Ausfertigung an das Redaktionsbureau
übermittelt werden sollte, damit die Übersetzungen rechtzeitig vorbereitet wer
den konnten. Trotzdem kam es wiederholt zu verspäteten Aussendungen, die
zum Teil heftige Beschwerden aus den Kronländern nach sich zogen. So ist
aus dem Jahr 1901 eine Interpellation des Abgeordneten Pantůček betreffend
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Subtitle
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Author
- Michaela Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 442
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437