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»Polykulturelle Translation« 175
Mit Beginn des Ersten Weltkrieges wurden die Aktivitäten des Evidenz
bureaus um ein Vielfaches verstärkt, und es bestand ein immenser Bedarf an
Dolmetschern : Das vermehrte Abhören von Telefonen, das Bespitzeln (»Be
horchen«) der Kriegsgefangenen und der Dienst in den Kriegsgefangenenla
gern machte den Einsatz vieler sprachkundiger Mitarbeiter erforderlich. Mit
telmäßige Sprachkenntnisse reichten nicht aus, gesucht wurden Männer, die
einschließlich der Dialekte in den verschiedenen Sprachen diese exzellent zu
beherrschen und auch am Telefon mitschreiben konnten. Für die Verhöre von
Kriegsgefangenen und Überläufern, eine besonders heikle Aufgabe, die vor al
lem psychologisches Geschick erforderte, wurde der Einsatz von Kundschaftern
gefördert, die die jeweilige Sprache besonders gut beherrschten, um auf den
Dienst von Dolmetschern verzichten zu können. Diese würden, so die Befürch
tung, den direkten Kontakt zwischen Kundschafter und Befragtem behindern
(Hutterer 1970 : 40).
An der italienischen Front waren im April 1918, um nur ein Beispiel zu
geben, 220 Offiziere und 1.000 Mann im Dolmetschdienst tätig,166 was der
Leitung des Evidenzbureaus ein hohes Maß an strategischer Koordination
abverlangte, mussten doch nun Dolmetschspezialkurse eingerichtet und ge
eignete Leute in sachbezogenen Dolmetschergruppen gesammelt werden. Die
kriegsbedingten Verhältnisse ließen die Leitung des Evidenzbureaus die Män
gel im eigenen Dolmetschwesen zur Gänze erkennen und veranlassten sie, im
späteren Kriegsverlauf ständige Dolmetschausbildungen einzurichten (Ronge
1930 : 20, 273). So wurde nicht nur in verschiedenen Armeekommandos ein
Sprachunterricht für Dolmetscher eingerichtet, wie etwa bei der Nachrichten
stelle des Militärkommandos in Graz bzw. eine eigene Dolmetschausbildung in
Italienisch, Englisch und Französisch beim Heeresgruppenkommando in Tirol,
sondern auch eine Dolmetschschule in Wien. Diese Dolmetschschule wurde
ebenso von einem hochrangigen Offizier geleitet wie alle anderen militärischen
Dolmetschausbildungsstätten, wobei die Offiziere neben »Französischem Dol
metschwesen« oder »Italienischem Dolmetschwesen« auch noch verschiedene
militärische Fächer unterrichteten. Besonders schwierig stellte sich die Sache
für Dolmetschungen aus dem Russischen dar, da zumeist die Sprachkenntnisse
nicht ausreichend waren und Russisch innerhalb der Monarchie hauptsächlich
von Ruthenen gesprochen wurde, die jedoch oft als russophil galten und als
nicht verlässlich eingestuft wurden. Im Sommer 1917 wurde in Lemberg ein
166 Für die Rückeroberung von Galizien im Jahr 1915 waren 42 Dolmetscher und Nachrichtenoffi
ziere erfolgreich eingesetzt (Fuchs 1994 : 96).
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Subtitle
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Author
- Michaela Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 442
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437