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230 Der »Nutzen fürs geistige Leben« : Übersetzungspolitik in der Habsburgermonarchie
Die »Geschmacksrichter« verfügen kraft ihres Amtes zusätzlich über ein so
ziales Kapital, das im vorliegenden Fall in einem Leitartikel der Oesterreichischen
Volkspresse. Christlichsoziales Organ für alle Stände ins Treffen geführt wird. Der
Artikel konzentriert sich in seinen Kommentaren zu den Geschehnissen der
Preisverleihung an Trebitsch auf das Kräftespiel der Protektion – ein Prototyp
sozialer Beziehungen im Feld –, eine »Schandtat, wie sie sich in den Annalen
der Geschichte der ganzen Erde noch nicht ereignet hat«, und prangert am
Verhalten der Jury nicht nur deren offensichtlich mangelndes Interesse an litera
rischen Werten an – einige Mitglieder hatten ja die Arbeit Trebitschs nicht ge
lesen –, sondern vor allem ihre Entscheidung, den Juden Trebitsch auserkoren zu
haben, »eine[n] der unfähigsten Schriftsteller, der wahrscheinlich nicht zufällig
ein Jude ist« (Bauernfeldpreis 1913 : 1). Der Leitartikel sieht im Zusammenspiel
zwischen der Zugehörigkeit Trebitschs zum Judentum und der niederträchtigen
Praxis der Protektion einen »Kulminationspunkt der Lumperei« und leistet da
mit dem distinktiven Merkmal der spezifischen sozialen Verortung Trebitschs
im österreichischen Literaturbetrieb Vorschub : Die Jurymitglieder lassen sich
schändlicherweise nicht nur in ihrer Auswahl von »äußeren Kräften« beeinflus
sen, sondern optieren als Resultat dieser Protektionsmaßnahmen überflüssiger
weise für einen »unfähigen Juden« – ein komplexes Geflecht von moralischen,
qualitätsbezogenen und vor allem rassistischen Anschuldigungen.
Nach Bourdieu sind soziale und kulturelle Unterschiede, wie sie hier anhand
der in dem Leitartikel skizzierten »rassischen« und auch literarisch qualitita
tiven sowie gesellschaftshierarchischen Merkmale dargestellt werden, durch
Konstruktionsprozesse sozialer AkteurInnen bedingt und sind stets relational
aufzufassen, das heißt, die Verbindung von Identität und Differenz ist im je
weiligen Kontext herauszuarbeiten (Bourdieu 1998 : 50). Die individuellen und
kollektiven Interessen der einzelnen AkteurInnen und Institutionen im Feld
– und dazu zählen auch alle die kulturellen Ereignisse kommentierenden Mas
senmedien – sind in Machtbeziehungen eingebunden, die das Funktionieren des
literarischen Feldes bestimmen. Für den vorliegenden Fall bedeutet das, dass der
massive Eingriff der Oesterreichischen Volks-Presse200 in den Fall Trebitsch einen
Kampf um Legitimation im Feld darstellt, der den unmittelbaren Legitimati
onsprozess (= Preisverleihung) zu überlagern sucht. Differenz wird hier zweimal
geschaffen : einmal durch den (angeblichen) Widerspruch zwischen den hehren
moralischen und qualitativen Ansprüchen eines Literaturpreises und der Dar
200 Übrigens schalteten sich auch weitere Zeitungen in den Konflikt ein ; siehe Rauscher (1937 : 101,
Fußnote 29).
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Subtitle
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Author
- Michaela Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 442
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437