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364 Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen
Die Mutter verwandelte sich mit Hilfe ihrer kroatisch-polnischen Kenntnisse
in eine Tschechin. Aus dem erstgeborenen Sprößling Franciszek wurde ein Fran-
tisek.
Vater Schneider schüttelte den Kopf […]. Im galizisch-bukowinischen Grenz-
gebiete hatte er im Wirrwarr von vier oder fünf Sprachen als neutraler Austro-
Aerarier gemächlich leben dürfen. Hier, wo nur zwei Völkerschaften einander be-
kämpften und das Dasein verekelten, gönnte man es ihm nicht mehr. […]
Schwer traf es Vater Schneider, daß er in diese arge Zeit hineinkam, wo der
Radetzkymarsch den Wert einer gefestigten Weltanschauung mehr und mehr zu
verlieren begann […].
[…]
Wohin durften sich die Brüder Schneider stellen ? Ihre Mutter war eine tsche-
chische Polin mit halb-kroatischer Vergangenheit ; der Vater ein neutraler Aus-
tro-Aerarier, polnisch durch die Frau, austrifiziert durch das Amt. Von mehreren
Sprachen hatte er je ein Stückchen Mensch, von keiner einen ganzen Menschen
erhalten – aber dieses Chaos war seine Heimat. […]« (Techet 1922 : 11–17).
Wenn die kurze Familiengeschichte »Das ewige Oesterreich« von Carl Techet290
hier in extenso zitiert wird, so hat das seinen Zweck, spricht sie doch einige der
Kernbereiche an, die im Rahmen der Problemfelder von Sprache, Nationen-
Zugehörigkeit und der diesbezüglichen Rolle von Übersetzung bereits disku-
tiert wurden. Die satirische Sicht auf das Aufkommen des Nationalismus im
Vielvölkerstaat und die diesbezügliche kopfschüttelnde Verständnislosigkeit
vonseiten des im Reich »nomadisierenden« Beamtentums (im Text : »beamtete
Nomaden«, ein Widerspruch in sich, der die Normalität der Absurdität wieder-
zugeben versucht) wird hier vor dem Hintergrund einer den Alltag charakteri-
sierenden Vielsprachigkeit dargestellt und spiegelt die konfliktgeladene Proble-
matik dieser Fragestellung im Kontext der plurilingualen Seele Kakaniens wider.
290 Der in Wien geborene Carl Techet (1877–1920) lehrte am Gymnasium in Kufstein, wurde je-
doch nach Veröffentlichung seiner unter dem Pseudonym Sepp Schluiferer veröffentlichten sati-
rischen Schrift Fern von Europa (1909), in der er der Tiroler Bevölkerung ein wenig schmeichel-
haftes Denkmal setzte, gnadenlos verfolgt und schließlich in einen k.k. »Hinterhof« (Proßnitz in
Mähren) versetzt. Die Zeitung Tiroler Wastl schrieb im November 1909 über den Autor : »Wer
dieser Spottgeburt aus Dreck und Spülicht nur einen Bissen Brot, nur einen Tropfen Wasser
reicht, dem faule die Hand vom Leibe, und wer dieses Scheusal tötet und zu Aas macht, der sei
gepriesen.« Fern von Europa ist längst zum Kultbuch geworden und wurde inzwischen wiederholt
aufgelegt (Plattform Inzing 2000, Nigg 2002 ; zu weiteren Reaktionen auf sein Werk vgl. SA-
GEN.at [o.J.]).
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Subtitle
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Author
- Michaela Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 442
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437