Page - 365 - in Die vielsprachige Seele Kakaniens - Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
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Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 365
Was in der zitierten Textstelle besonders hervorsticht, ist der Verweis auf den
dezentrierten Sprachgebrauch des braven Beamten Schneider : Die Frage, ob
sein Name deutsch sei, hatte er mit einem verständnislosen Lächeln quittiert,
und seine offensichtliche »Muttersprache« Deutsch verwendet er nun im »asia-
tischen Oesterreich« nicht nur sehr sporadisch, sondern »verlernt« sie geradezu.
So richtig im Zentrum steht keine der von ihm verwendeten Sprachen, denn
es sind der Situationen und Umstände zu viele, in denen sich Herr Schneider
täglich bewegt, als dass eine bestimmte Sprache die Oberhand gewinnen müsste
oder könnte. Diese »Normalität«, die durch die »Erfindung der Nation« (Ander-
son 1998) notwendigerweise erschüttert wurde, ist konstitutiver Bestandteil des
Alltags in Vielvölkerstaaten :
Wo mehrere Sprachen nebeneinander bestehen, kann Mehrsprachigkeit so normal
sein, daß eine ausschließliche Identifizierung mit einer bestimmten von ihnen ganz
willkürlich wäre. (Hobsbawm 1996 : 71)
Dies trifft auf Herrn Schneider zweifelsohne zu. Es mag deshalb nicht verwun-
dern, wenn seine Reaktion angesichts der Rubrik »Umgangssprache« im Fra-
gebogen der Volkszählung »fassungslos« ist – seine vielsprachige Seele sträubt
sich gegen eine Eindeutigkeit, die für sein Denken und Handeln zumindest in
sprachlichen Belangen nie kennzeichnend war und die zur Unmittelbarkeit des
Sprachgebrauchs (»man spricht irgendeine Sprache, die man eben gerade bei
der Hand hat und braucht«) im Widerspruch steht. Gerade die Tatsache, dass
das Wechseln zwischen den Sprachen, die kontinuierliche Bewegung zwischen
verschiedenen Kommunikationscodes, wenigstens in dieser Erzählung keinen
Unterschied zwischen dem Amtsgebrauch und dem Privatgebrauch themati-
siert, zeigt, dass Schneider für eine Zeit steht, in der der Kontextwechsel nicht
bewusst erlebt wird, in der er also stellvertretend für ein Subjekt steht, das in
sich ambivalent ist, ein »verknotetes Subjekt« (Bronfen/Marius 1997 : 4), das die
Geschehnisse rund um sich herum mehr oder minder »gottgewollt«, oder zu-
mindest ohne jeglichen bewussten Zwiespalt einer jeweils bestimmten Sprache
zuordnet, ist er doch »Österreicher an sich« und schreibt sich – aus seiner Sicht
folgerichtig – als Umgangssprache das Attribut »neutral« zu.
Der alltägliche Kontextwechsel, den Herr Schneider mit einem unerschüt-
terlich erscheinenden Selbstverständnis vollzieht, steht für permanente Über-
setzungsprozesse, die zwischen den verschiedenen Welten, in denen Herr
Schneider wandelt und handelt, stattfinden und durch den Eintritt in eine »arge
Zeit, wo der Radetzkymarsch den Wert einer gefestigten Weltanschauung mehr
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Subtitle
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Author
- Michaela Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 442
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437