Seite - 6 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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begonnenen Bau weiter hinauf in das kleine Himmelstück Zeit, das unsicher
über unserem Leben hängt.
Die drei heroischen Gestalten Hölderlins, Kleistens und Nietzsches haben
eine sinnfällige Gemeinsamkeit schon im äußern Lebensschicksal: sie stehen
gleichsam unter demselben horoskopischen Aspekt. Alle drei werden sie von
einer übermächtigen, gewissermaßen überweltlichen Macht aus ihrem
eigenen warmen Sein in einen vernichtenden Zyklon der Leidenschaft gejagt
und enden vorzeitig in einer furchtbaren Verstörung des Geistes, einer
tödlichen Trunkenheit der Sinne, in Wahnsinn oder Selbstmord. Unverbunden
mit der Zeit, unverstanden von ihrer Generation, schießen sie meteorisch mit
kurzem strahlenden Licht in die Nacht ihrer Sendung. Sie selbst wissen nicht
um ihren Weg, um ihren Sinn, weil sie nur vom Unendlichen her in
Unendliches fahren: kaum streifen sie in jähem Sturz und Aufstieg ihres Seins
an die wirkliche Welt. Etwas Außermenschliches wirkt in ihnen, eine Gewalt
über der eigenen Gewalt, der sie sich vollkommen verfallen fühlen: sie
gehorchen nicht (schreckhaft erkennen sie es in den wenigen wachen Minuten
ihres Ich) dem eigenen Willen, sondern sind Hörige, sind (im zwiefachen
Sinne des Worts) Besessene einer höheren Macht, der dämonischen.
Dämonisch: das Wort ist durch so viele Sinne und Deutungen gewandert,
seit es aus der mythisch-religiösen Uranschauung der Antike bis in unsere
Tage kam, daß es not tut, ihm eine persönliche Deutung aufzuprägen.
Dämonisch nenne ich die ursprünglich und wesenhaft jedem Menschen
eingeborene Unruhe, die ihn aus sich selbst heraus, über sich selbst hinaus ins
Unendliche, ins Elementarische treibt, gleichsam als hätte die Natur von
ihrem einstigen Chaos ein unveräußerliches unruhiges Teil in jeder einzelnen
Seele zurückgelassen, das mit Spannung und Leidenschaft zurück will in das
übermenschliche, übersinnliche Element. Der Dämon verkörpert in uns den
Gärungsstoff, das aufquellende, quälende, spannende Ferment, das zu allem
Gefährlichen, zu Übermaß, Ekstase, Selbstentäußerung, Selbstvernichtung
das sonst ruhige Sein drängt; in den meisten, in den mittleren Menschen wird
nun dieser kostbargefährliche Teil der Seele bald aufgesogen und aufgezehrt;
nur in seltenen Sekunden, in den Krisen der Pubertät, in den Augenblicken, da
aus Liebe oder Zeugungsdrang der innere Kosmos in Wallung gerät,
durchwaltet dies Heraus-aus-dem-Leibe, dies Überschwengliche und
Selbstentäußernde ahnungsvoll selbst die bürgerlich banale Existenz. Sonst
aber ersticken die gemessenen Menschen in sich den faustischen Drang, sie
chloroformieren ihn mit Moral, betäuben ihn mit Arbeit, dämmen ihn mit
Ordnung: der Bürger ist immer Urfeind des Chaotischen, nicht nur in der
Welt, sondern auch in sich selbst. Im höheren Menschen aber, besonders im
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199