Seite - 23 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Seele das Gefühl der Weltfeindschaft. Hölderlin bleibt ein vom Leben
Unbelehrbarer, und alles, was er an Scheinfreude und Ernüchterung, an Glück
und Enttäuschung gelegentlich gewinnt, vermag die unabänderlich festgelegte
abwehrende Haltung gegen die Wirklichkeit nicht mehr zu beeinflussen.
»Ach, die Welt hat meinen Geist von früher Jugend an in sich
zurückgescheucht«, schreibt er einmal an Neuffer, und tatsächlich kommt er
nie mehr mit ihr in eine Bindung und Beziehung, er wird paradigmatisch das,
was die Psychologie einen »introverten Typus« nennt, einer jener Charaktere,
die sich mißtrauisch gegen alle äußere Anregung abgesperrt halten und nur
von innen heraus, aus den urtümlich eingepflanzten Keimen ihre geistige
Gestaltung entwickeln. Die Hälfte seiner Gedichte variiert von nun an nur
dasselbe Motiv, den unlösbaren Gegensatz von gläubiger, sorgloser Kindheit
und dem feindseligen, illusionslosen, praktischen Leben, der »zeitlichen
Existenz« im Gegensatz zum geistigen Sein. Ein Zwanzigjähriger,
überschreibt er schon trauernd ein Gedicht »Einst und Jetzt«, und im Hymnus
»An die Natur« rauscht dann strophisch gebunden diese, seine ewige
Erlebnismelodie herrlich hervor:
Da ich noch um deinen Schleier spielte,
Noch an dir wie eine Blüte hing,
Noch dein Herz in jedem Laute fühlte,
Der mein zärtlichbebend Herz umfing.
Da ich noch mit Glauben und mit Sehnen
Reich, wie du, vor deinem Bilde stand,
Deine Stelle noch für meine Tränen,
Eine Welt für meine Liebe fand;
Da zur Sonne noch mein Herz sich wandte,
Als vernähme seine Töne sie,
Und die Sterne seine Brüder nannte
Und den Frühling Gottes Melodie,
Da im Hauche, der den Hain bewegte,
Noch dein Geist, dein Geist der Freude sich
In des Herzens stiller Welle regte,
Da umfingen goldne Tage mich.
Aber diesem Hymnus auf die Kindheit antwortet schon in düsterem Moll
die Lebensfeindschaft des früh Enttäuschten:
Tot ist nun, die mich erzog und stillte,
Tot ist nun die jugendliche Welt,
Diese Brust, die einst ein Himmel füllte,
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199