Seite - 32 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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alle Mahnung an diese Möglichkeit zurück. Er weiß, daß er vor ihnen trotz
aller Liebe im Verdacht eines Müßiggängers steht, und versucht ihnen seinen
Beruf zu erklären, schreibt ihnen, »daß er in einer solchen Muße nicht müßig
gehe, auch nicht auf Kosten anderer nur einen gelegenen Zustand bereite«.
Immer betont er in feierlichster Form gegen ihren Verdacht den Ernst und die
Sittlichkeit seines Tuns: »Glauben Sie mir«, schreibt er der Mutter
respektvoll, »daß ich mein Verhältnis zu Ihnen nicht leichtnehme und daß es
mir oft Unruhe genug schafft, wenn ich meinen Lebensplan mit allen Ihren
Wünschen zu vereinen suche.« Er trachtet sie zu überzeugen, daß er »den
Menschen mit meinem jetzigen Geschäfte ebenso diene wie mit dem
Predigeramte«, und weiß doch im Tiefsten, daß er sie niemals überzeugen
kann. »Es ist kein Eigensinn«, stöhnt er aus tiefstem Herzen, »was mir meine
Natur und meine jetzige Lage bestimmt. Es ist meine Natur und mein
Schicksal, und dies sind die einzigen Mächte, denen man den Gehorsam
niemals aufkündigen darf.« Doch auch die alten einsamen Frauen verlassen
ihn nicht: seufzend senden sie dem Unbelehrbaren ihr Erspartes, waschen ihm
Hemden und stricken ihm Socken: viele heimliche Tränen und Sorgen sind
eingewebt in jedes Gewand. Aber wie Jahr und Jahr vergeht, ihr Kind immer
auf Wanderschaft und gelegentlichem Beruf umgetrieben, für ihre Augen sich
ins Wesenlose verliert, pochen sie wieder leise – auch in ihnen ist die zarte
nachdrängende Art des Kindes – bei ihm mit dem alten Wunsche nochmals
an. Sie wollen ihn seiner poetischen Liebhaberei nicht entfremden, deuten sie
ganz scheu an, aber er könnte sie doch mit einer Pfarre vereinen: vorahnend
bieten sie ihm des tiefverwandten Mörike Resignation und Idyllik, Teilung
des Lebens an die Welt und die Dichtung. Aber hier ist an Hölderlins Urmacht
gerührt, an den Glauben an die Unteilbarkeit des priesterlichen Dienstes, und
wie ein Banner entrollt er die geheimste Überzeugung: »Es hat mancher«,
schreibt er der Mutter auf ihre Mahnung, »der wohl stärker war als ich,
versucht, ein großer Geschäftsmann oder Gelehrter im Amt und dabei Dichter
zu sein. Aber immer hat er am Ende eines dem andern aufgeopfert, und das
war in keinem Falle gut … denn wenn er sein Amt aufopferte, so handelte er
unehrlich an andern, und wenn er seine Kunst aufopferte, so sündigte er
gegen seine von Gott gegebene natürliche Aufgabe, und das ist so gut Sünde
und noch mehr, als wenn man gegen seinen Körper sündigt.« Doch dieser
geheimnisvoll-großartigen Sicherheit der Sendung antwortet niemals der
bescheidenste Erfolg; Hölderlin wird fünfundzwanzig, wird dreißig Jahre, und
noch immer muß er, kümmerlicher Magister und Freischlucker an fremden
Tischen, wie ein Knabe ihnen danken für das gesendete »Wämmesle«, die
Schnupftücher und die Socken, immer noch den leisen, von Jahr zu Jahr
immer schmerzlicheren Vorwurf der Enttäuschten hören. Er hört ihn in Qual
und stöhnt verzweifelt auf zur Mutter: »Ich wollte, Sie hätten einmal Ruhe
von mir«, aber immer muß er wieder an die einzige Tür pochen, die ihm in
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199