Seite - 36 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Nicht also aus einer Trauer, einer müßigen Langeweile wie bei jenem
erschafft sich das Göttliche den Dichter – immer waltet bei Schiller noch die
Idee der Kunst als irgendeines erhabenen »Spiels« –, sondern aus einer
Notwendigkeit: es ist nicht ohne den Dichter, das Göttliche, es wird erst durch
ihn. Dichtung – hier tastet man an den Urkern des Hölderlinschen
Ideenkreises – ist eine Weltnotwendigkeit, sie ist nicht bloß eine Kreation
innerhalb des Kosmos, sondern die Erschaffung des Kosmos selbst. Die
Götter senden nicht aus Spieltrieb den Dichter, sondern aus Notwendigkeit:
sie brauchen ihn, den »Gesandten des strömenden Worts«:
Es haben aber an eigner
Unsterblichkeit die Götter genug, und bedürfen
Die Himmlischen eines Dings,
So sind’s Heroen und Menschen
Und Sterbliche sonst. Denn weil
Die Seligsten nichts fühlen von selbst,
Muß wohl, wenn solches zu sagen
Erlaubt ist, in der Götter Namen
Teilnehmend fühlen ein andrer,
Den brauchen sie.
Sie brauchen ihn, die Götter, und ebenso brauchen die Menschen die
Dichter, die
heiligen Gefäße,
Worin der Wein des Lebens, der Geist
Der Helden sich aufbewahrt.
In ihnen fließt beides zusammen, das Obere und das Untere, sie lösen den
Zwieklang in die notwendige Harmonie, ins Gemeinsame, denn
Des gemeinsamen Geistes Gedanken sind
Still endend in der Seele des Dichters.
So tritt, erlesen und verflucht, zwischen Einsamkeit und Einsamkeit diese
irdisch gezeugte, göttlich durchdrungene Gestalt des Dichters, berufen, das
Göttliche göttlich zu schauen und es den Irdischen im irdischen Bildnis
fühlsam zu machen. Von den Menschen kommt er, von den Göttern ist er
gefordert: sein Dasein ist eine Mission, er ist die klingende Stufe, auf der
»treppenweise das Himmlische niedersteigt«. Im Dichter erlebt die dumpfe
Menschheit symbolisch das Göttliche: wie im Mysterium des Kelches und der
Hostie genießen sie in seinem Wort Leib und Blut der Unendlichkeit. Darum
das unsichtbare Priesterband um seine Stirne und das unverbrüchliche
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199