Seite - 44 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Ist himmlischer Gesang.
Die Zerstücktheit des Individuums ist aufgehoben, der »Himmel des
Menschen« erreicht die Einheit des Gefühls (»Eines zu sein mit Allem, das ist
das Leben der Gottheit, das ist der Himmel des Menschen«, sagt sein
Hyperion). Phaethon, die symbolische Gestalt seines Lebens, hat mit dem
feurigen Wagen die Sterne erreicht, schon umrauscht ihn die sphärische
Musik: in diesen produktiv ekstatischen Sekunden erreicht Hölderlin den
Höhepunkt seiner Existenz.
Aber in dieses Seligkeitsempfinden mengt sich vorbedeutend schon das
Ahnen des Sturzes, das ewige Untergangsgefühl. Er weiß, daß solcher
Aufenthalt im Feurigen, dieser Blick in Gottes Geheimnis, dies Tafeln an der
Unsterblichen Tisch, Sterblichen nur flüchtig gestattet ist. Schicksalswissend
spricht er sein Schicksal aus:
Nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch.
Traum von ihnen ist drauf das Leben.
Notwendigerweise muß – Phaethons Ende! – der rauschenden Fahrt im
Sonnenwagen der Sturz in die Tiefe folgen.
Denn es scheint,
Als liebten unser ungeduldiges
Gebet die Götter nicht.
Und nun zeigt der Genius, der helle und selige, Hölderlin sein anderes
Gesicht, die finstere Dunkelheit des Dämons. Hölderlin stürzt aus der
Dichtung in das Leben immer zerschmettert zurück, er stürzt wie Phaethon
nicht auf die Erde, in seine Heimat bloß, sondern tiefer noch hinab in ein
unendliches Meer von Schwermut. Goethe, Schiller, sie alle kommen aus der
Dichtung wie von einer Reise, aus einem andern Lande, ermüdet manchmal,
aber doch gesammelten Sinns und heiler Seele: Hölderlin schmettert aus dem
dichterischen Zustand wie aus einem Himmel hinab und bleibt verwundet,
zerschlagen, ein geheimnisvoll Ausgestoßener in der Sachwelt zurück. Sein
Erwachen aus dem Enthusiasmus ist immer eine Art Seelentod, der
Zurückgestürzte empfindet das reale Leben sofort wieder als dumpf und
gemein, »die Götter sterben, wenn die Begeisterung stirbt. Pan ist tot, wenn
Psyche stirbt«. Das wache Leben ist nicht lebenswert, außerhalb der Ekstase
alles schal und seelenlos.
Hier also – kontrapunktisch der beispiellosen Exaltationskraft des
Hölderlinschen Organismus gegenübergestellt – wurzelt jene ganz
eigentümliche Melancholie Hölderlins, die nicht eigentlich Schwermut war
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199