Seite - 49 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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rein Dichterischen dauerhaft gehemmt und wie könnte auch ein Nur-Gehirn,
ein Nur-Geist, ein solcher gigantischer Eisblock jemals wirkliche Fauna und
Flora der Phantasie befruchten, wie könnte dieser steife, lebensloseste
Mensch, der sich zum Automaten des Denkens entpersönlicht hatte, von
diesem Manne, der nie eine Frau berührte, nie den Umkreis seiner
Provinzstadt überschritt, der jedes Zähnchen seines Tageräderwerkes um die
gleiche Stunde durch fünfzig, nein durch siebzig Jahre automatisch kreisen
ließ – wie könnte, so frage ich, eine solche Nichtnatur, ein dermaßen
unspontaner, selbst zu einem starren System gewordener Geist (dessen
Genialität eben in dieser fanatischen Konstruktivität beruht) jemals den
Dichter fördern, den sinnlichen, vom heiligen Zufall des Einfalls
beschwingten, von der Leidenschaft ständig ins Unbewußte getriebenen
Menschen? Kants Einfluß zieht die Klassiker von ihrer ursprünglichsten
Leidenschaft ab und unmerklich in einen neuen Humanismus hinein, in eine
Gelehrtenpoesie. Oder ist es im letzten nicht unendlichster Blutverlust für die
deutsche Dichtung gewesen, wenn Schiller, der Former der bildhaftesten
deutschen Gestalten, sich ernst im Gedankenspiel abmüht, die Dichtung in
Kategorien zu spalten, in naive und sentimentalische, und wenn Goethe mit
den Schlegels über klassisch und romantisch dissertiert? Ohne es zu wissen,
ernüchtern sich die Dichter an der Überhelle des Philosophen, an dem kalten
rationalistischen Licht, das von diesem systematischen, kristallinisch
gesetzhaften Geiste ausgeht, gerade wie Hölderlin nach Weimar kommt, hat
Schiller schon die Rauschkraft seiner frühen, seiner dämonischen Inspiration
verloren und Goethe (dessen gesunde Natur mit einem urtümlichen
Feindschaftsinstinkt gegen alles systematisch Metaphysische tätig reagierte)
sich mit seinem Hauptinteresse der Wissenschaft zugewandt. In welchen
rationalistischen Sphären ihre Gedanken kreisten, zeugt heute noch ihr
Briefwechsel, dieses herrliche Dokument vollendeten Welterfassens, aber
doch unendlich eher der Briefwechsel zweier Philosophen oder Ästhetiker als
dichterische Konfession: das Poetische ist in jenem Augenblick, da Hölderlin
zu den Dioskuren tritt, unter der magnetischen Konstellation Kants vom
Mittelpunkte abgerückt und an die Außenperipherie ihrer Persönlichkeit
geschoben. Eine Epoche des klassischen Humanismus hat begonnen, nur daß,
im verhängnisvollen Gegensatz zu Italien, die gewaltigsten Geister der
Epoche nicht wie Dante und Petrarca und Boccaccio aus der kühlen Welt der
Gelehrsamkeit in die dichterische Sphäre flüchten, sondern daß Goethe und
Schiller aus ihrer göttlichen Gestaltungswelt in die kältere der Ästhetik und
Wissenschaft für (unwiederbringliche) Jahre zurücktreten.
So wächst auch in allen Jüngeren, die zu jenen als den Meistern aufgesehen
haben, der verhängnisvolle Wahn, sie müßten »gebildet«, müßten
»philosophisch geschult« sein. Novalis, dieser engelhaft abstrakte Geist,
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199