Seite - 50 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Kleist, dieser schwelgerische Triebmensch, beides Naturen, denen die
konkrete Geisteskälte Kants und all der Spekulativen nach ihm absolut
kontrapunktisch entgegengesetzt war, werfen sich aus einem
Unsicherheitsgefühl – nicht aus einem Instinkt – in das ihnen feindliche
Element. Und auch Hölderlin meint, sich verpflichtet zu sein, den ästhetisch-
philosophischen Jargon der Zeit zu reden, und alle Briefe aus der Jenenser
Epoche sind voll von schalen Begriffsdeuteleien, von jenen rührend
kindlichen Anstrengungen des Philosophierenwollens, das so sehr wider sein
tieferes Wissen, sein unendliches Ahnen war. Denn Hölderlin ist geradezu der
Typus eines illogischen, ja unintellektuellen Geistes, seine Gedanken, oft
großartig wie Blitze aus irgendeinem Himmel der Genialität niederzuckend,
bleiben absolutpaarungsunfähig, ihr magisches Chaos widerstrebt jeder
Bindung und Verflechtung. Was er vom »bildenden Geiste« sagt:
Nur was blühet, erkenn ich,
Was er sinnet, erkenn ich nicht,
das deutet ahnungsvoll seine Grenze: nur die Ahnung des Werdens vermag
er auszudrücken, nicht die Schemata, die Begriffe des Seins zu gestalten.
Hölderlins Ideen sind Meteore – Himmelssteine und nicht Blöcke aus einem
irdischen Steinbruch, mit geschliffenen Kanten zu einer starren Mauer (jedes
System ist eine Mauer) zu schichten. Sie liegen frei in ihm, wie sie
niederstürzen, er braucht sie nicht zu formen, nicht zu schleifen; und was
Goethe einmal von Byron sagt, trifft tausendmal besser auf Hölderlin zu: »Er
ist nur groß, wenn er dichtet. Wenn er reflektiert, ist er ein Kind.« Dieses
Kind aber setzt sich in Weimar auf Fichtens, auf Kantens Schulbank und
würgt so verzweifelt mit Doktrinen, daß Schiller selbst ihn mahnen muß:
»Fliehen Sie womöglich die philosophischen Stoffe, sie sind die
undankbarsten … , bleiben Sie der Sinnenwelt näher, so werden Sie weniger
in Gefahr sein, die Nüchternheit in der Begeisterung zu verlieren.« Und es
dauert lange, bis Hölderlin die Gefahr der Nüchternheit gerade im Irrgarten
der Logik erkennt, das feinste Barometer seines Wesens, die sinkende
Produktion erst zeigt ihm an, daß er, der Flugmensch, in eine Atmosphäre
geraten ist, die auf seine Sinne drückt. Dann erst stößt er gewaltsam die
systematische Philosophie von sich: »Ich wußte lange nicht, warum das
Studium der Philosophie, das sonst den hartnäckigen Fleiß, den es erfordert,
mit Ruhe belohnt, warum es mich, je uneingeschränkter ich mich ihm hingab,
nur um so friedloser und selbst leidenschaftlich machte. Und ich erkläre es
mir jetzt daraus, daß ich in höherem Grade, als es nötig war, mich von meiner
eigentümlichen Neigung entfernte.«
Aber die zweite, die gefährlichere Enttäuschung kommt von den Dichtern.
Boten des Überschwangs waren sie ihm von ferne erschienen, Priester, die
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199