Seite - 69 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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seine suchende Ungeduld mitgeben – ihm aber, Empedokles, dem »immer
fremden Manne«, gibt er seine mystische Verbundenheit mit dem All, Ekstase
und tiefste Ahnung des Untergangs. Im Hyperion vermochte er sich nur zu
poetisieren, zu symbolisieren – im Empedokles steigert der Geprüfte sich ins
Heldische empor, hier ist ihm sein Ideal erfüllt, ganz mit der Ganzheit des
Empfindens aufzuschweben in beflügelte Gestalt.
Empedokles von Agrigent ist, wie Hölderlins erste Hinschrift klar deutend
ausspricht, »ein Todfeind aller einseitigen Existenz« und am Leben, an den
Menschen leidend, weil er nicht »mit allgegenwärtigem Herzen innig wie ein
Gott und frei und ausgebreitet wie ein Gott mit ihnen lieben und leben kann«.
Darum gibt Hölderlin ihm sein Geheimstes mit, die Unteilbarkeit des Gefühls;
Empedokles hat als der Dichter, als der wahre Genius die Gnade der
Allverbundenheit, die »himmlische Verwandtschaft« mit der ewigen Natur.
Aber noch höher hebt ihn bald Hölderlins Rauschkraft empor, er macht ihn
zum Magier des Geistes:
vor dem
In todesfroher Stund am heilgen Tage
Das Göttliche den Schleier abgeworfen –
Den Licht und Erde liebten, dem der Geist,
Der Geist der Welt, den eignen Geist erweckte.
Aber eben um dieser Allumfassung willen leidet der Meister an der
zerstückten Form des Lebens, »daß alles Vorhandene an das Gesetz der
Sukzession geknüpft ist«, daß Stufen und Schwellen und Türen und
Schranken das Lebendige ewig abteilen und auch der höchste Enthusiasmus
nicht imstande ist, die Zerteiltheit der Menschen in eine feurige Einheit
umzuschmelzen. So reißt Hölderlin das Eigenerlebnis, den Zwiespalt
zwischen eigener Gläubigkeit und Nüchternheit der Welt ins Kosmische
empor: Empedokles überhäuft er mit den höchsten Entzückungen seines
Daseins, der Ekstase der Inspiration, aber auch mit den tiefsten Depressionen
seiner Ernüchterung. Denn Empedokles ist im Augenblicke, da Hölderlin ihn
erscheinen läßt, nicht der Gewaltige mehr – die Götter (in Hölderlins Sinn:
die Inspiration) haben ihn verlassen, haben »seine Kraft von ihm genommen«,
weil er in Hybris, in trunkenem Überschwang sich zu sehr seiner Seligkeit
gerühmt:
Denn es hasset
Der sinnende Gott
Unzeitiges Wachstum.
Jenem aber war das Alleinsgefühl zur seligen Verzückung geworden, der
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199