Seite - 70 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Phaetonsflug hatte ihn so hoch in die Himmel gerückt, daß er vermeinte,
selbst Gott zu sein, und sich rühmte:
Zur Magd ist mir
Die herrnbedürftige Natur geworden.
Und hat sie Ehre noch, so ists von mir.
Was wäre denn der Himmel und das Meer
Und Inseln und Gestirn und was vor Augen
Den Menschen alles liegt, was war es auch,
Dies tote Saitenspiel, gab ich ihm Ton
Und Sprach und Seele nicht? Was sind
Die Götter und ihr Geist, wenn ich sie nicht
Verkündige.
Nun ist von ihm die Gnade gesunken, aus ungeheuerster Machtfülle ist er
zurückgestürzt in die ungeheuerste Ohnmacht: die »weite lebensreiche Welt«
erscheint dem mit Schweigen Geschlagenen »als ein verlorenes Eigentum«.
Die Stimme der Natur geht leer über ihn hin und weckt in seiner Brust nicht
mehr Melodie, er ist zurückgesunken ins Irdische. Hier ist Hölderlins
Urerlebnis sublimiert, der Niedersturz aus den Himmeln der Begeisterung in
die reale Welt, und dramatisch bildet sich alle Schmach, die er in jenen Tagen
erduldet, zu gewaltiger Szene um. Denn die Menschen erkennen sogleich den
Genius in seiner Ohnmacht, hämisch boshaft, undankbar dringen sie auf den
Wehrlosen ein, sie treiben Empedokles von Stadt und Herd, wie sie Hölderlin
von Haus und Liebe drängten, sie jagen ihn hinaus in die tiefste Einsamkeit.
Hier aber, in der Höhe des Ätna, in der heiligen Einsamkeit, wo die Natur
wieder spricht, erhebt sich herrlich die gesunkene Gestalt, erhebt sich herrlich
das heldische Gedicht. Sobald Empedokles – wunderbar ist das Symbol – von
der Reinheit des kristallenen Bergwassers getrunken, dringt die Reinheit der
Natur wieder magisch in sein Blut,
es dämmert zwischen dir
Und mir die alte Liebe wieder auf,
aus Trauer wird Erkenntnis, aus Notwendigkeit ein freudiges Bejahen.
Empedokles erkennt den Weg zur Heimkehr, zur letzten Verbindung: er geht
über die Menschen hinaus in die Einsamkeit, über das Leben in den Tod. Die
letzte Freiheit, Heimkehr ins All, das ist Empedokles’ seligste Sehnsucht nun,
und freudig tritt der Weltgläubige an, sie zu erfüllen:
es scheun
Die Erdenkinder meist das Neu und Fremde …
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199