Seite - 80 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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verschwistern in erschütternden Improvisationen Fern und Nah, Traum und
Erlebnis. »Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt« – Novalis’ Wort von
der letzten Auflösung des Dichters erfüllt sich nun für Hölderlin. Überwunden
ist die persönliche Sphäre. »Liebeslieder sind müder Flug«, schreibt er in
jenen Tagen, »ein anderes ist das hohe und reine Frohlocken vaterländischer
Gesänge«: so bricht ein neues Pathos sich aus der überfließenden Empfindung
vulkanisch Bahn. Der Überlauf ins Mystische beginnt: Zeit und Raum sind
versunken in purpurner Finsternis, Vernunft ist vollkommen der Inspiration
geopfert, es sind keine Gedichte mehr, sondern »dichtendes Gebet«,
durchflackert von Blitzen und umhüllt von pythischen Dämpfen: aus der
jünglinghaften Begeisterung des beginnenden Hölderlin ist dämonische
Trunkenheit geworden, heiliges Rasen. Etwas merkwürdig Wegloses geht
durch diese großen Gedichte: sie fahren steuerlos in ein unendliches Meer,
niemandem gehorchend als dem Gebot des Elements, dem Tönen von jenseits
her, jedes einzelne ein »bateau ivre«, das mit zerbrochenem Ruder den
Katarakt singend hinabschießt. Am Ende ist schließlich Hölderlins Rhythmus
so weit auseinandergespannt, daß er zerreißt, die Sprache so verdichtet und
gesättigt, daß sie sinnlos wird, nur noch »Tönen aus dem prophetischen Haine
Dodonas« – der Rhythmus vergewaltigt die Idee, er wird »wie der Weingott
törig göttlich und gesetzlos«. Der Dichter und das Gedicht, beide vergehen im
höchsten Übermaß, in der äußersten Ergießung der Kräfte ins Unendliche.
Hölderlins Geist vergeht, verweht spurlos im Gedicht, und der Geist des
Gedichtes wiederum verlischt in chaotischer Dämmerung. Alles Irdische,
alles Persönliche, alles Formhafte wird aufgezehrt in dieser vollkommensten
Selbstvernichtung: ganz wesenlos, ganz nur orphische Musik wehen seine
letzten Worte in den heimatlichen Äther zurück.
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199