Seite - 89 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Hymnus an morgendlicher Klarheit, an Reinheit des Umrisses in der
erhabenen Verwirrung verliert, ersetzt ihm dämonische Inspiration durch jähe
Blitze des Geistes. Denn durchaus gewitterhaft, durchaus blitzhaft sind von
nun ab Hölderlins dichterische Erleuchtungen: sie dauern nur kurz und
brechen unvermutet aus dem finster rauschenden Gewölk seiner
breithinrollenden Oden hervor, aber sie erhellen unendlichen Horizont. Und
in diesem wunderbaren Wandeln ins Weglose hinein begibt sich da knapp vor
dem Ende, knapp vor dem Absturz in den Abgrund noch das einzige Wunder:
im tiefsten Labyrinth des Weges ertastet Hölderlin, was er einst bewußt mit
wachen Sinnen vergeblich gesucht: das griechische Geheimnis. Auf allen
Straßen der Kindheit hatte der Jüngling sein Hellas gesucht, vergebens
Hyperion ausgesandt, es an allen Gestaden der Zeit und der Vergangenheit zu
finden. Er hatte Empedokles beschworen von den Schatten und die Bücher
der Weisen durchforscht, das »Studium der Griechen« hatte ihm »statt
Freundesumgang gedient«; nur darum war er so fremd geworden seinem
Vaterland, seiner Zeit, weil er ewig auf dem Wege nach diesem
Traumgriechenland unterwegs gewesen war: und selbst erstaunend über diese
Verzauberung seiner Sinne hatte er sich oft gefragt:
Was ist es, das
An die alten seligen Küsten
Mich fesselt, daß ich mehr noch
Sie liebe als mein Vaterland?
Denn wie in himmlische
Gefangenschaft verkauft
Dort bin ich, wo Apollo ging.
Und da, mitten im Chaos der Sinne, in der tiefsten Verklüftung des Geistes
glänzt es ihm plötzlich glühend entgegen, das griechische Geheimnis. Wie
Virgil den Dante, so führt Pindar den großen Verirrten der letzten Trunkenheit
der hymnischen Rede entgegen. In den dröhnenden Gesängen, in den
blockhaft chaotischen, felsig getürmten Übertragungen Pindars und
Sophokles’, erhebt sich Hölderlins Sprache über das bloß Hellenistische, bloß
apollonisch Klare seines Anfangs: ungeheure Blöcke mykenischen Gesteins,
eines mythischen Urgriechentums, ragen diese Transpositionen des tragischen
Rhythmus in unsere laue, künstlich durchwärmte Sprachwelt. Nicht das Wort
eines Dichters, nicht der nüchterne Sinn eines Verses ist da hinübergerettet
von einem Ufer der Sprache zum anderen, sondern der feurige Kern der
bildenden Leidenschaft noch einmal urmächtig entzündet. So wie im
Organischen Geblendete deutlicher, gleichsam wacher hören, und wie ein
abgestorbener Sinn die anderen sinnlicher, empfänglicher macht, so ist der
Geist des Künstlers Hölderlin, seit sich ihm das klare Licht des nüchternen
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199