Seite - 92 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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setzt sich auch der Verworrene ans Klavier und spielt stundenlang; aber er
findet keine Folge mehr, es wird keine Fülle von Tönen, sondern ein totes
Harmonisieren, eine beharrliche fanatische Wiederholung derselben armen
kurzen Melodie (und gespenstisch klappern die wildgewachsenen Fingernägel
über die verstimmten Tasten). Immer aber ist es ein Tönen, ein Rhythmus, in
dem der Verstoßene des Geistes weilt: wie bei der Äolsharfe der klingende
Wind durch abgeschnittenes gehöhltes Rohr, zieht hier durch das ausgekohlte
Gehirn noch der ewige Klang des Elements.
Endlich, von leisem Grauen bewegt, klopft der Horchende an die Tür: ein
dumpfes, aufgescheuchtes und wahrhaft erschrockenes »Herein« antwortet.
Eine hagere Gestalt, ein E.T.A. Hoffmannscher Kanzlist steht inmitten im
kleinen Gemach, die zarte Figur nur wenig vom Alter gebeugt, obwohl das
Haar schon weiß und dünn über die schön geschwungene Stirn fällt. Fünfzig
Jahre Leiden und Einsamkeit haben den Adel des einstigen Jünglings nicht
ganz zu zerstören vermocht; noch schneidet, nur geschärft an der Schneide
der Zeit, die Linie rein die Silhouette von den zart gewölbten Schläfen zum
herben Mund und geballten Kinn. Manchmal reißen die Nerven mit jähem
Ruck quer durch das gequälte Gesicht: durch den ganzen Körper bis in die
knöchernen Fingerspitzen zuckt dann der elektrische Schlag. Aber entsetzlich
unbewegt bleibt dabei das einst so schwärmerische Auge: grauenhaft stumm
und blicklos wie eines Blinden ruht seine Pupille stumpf unter den Lidern.
Doch irgendwo glüht und flackert noch Wissen und Leben in diesem
geisternden Schatten: schon bückt sich dienerisch und übertrieben mit
unzähligen Verbeugungen und Reverenzen wie vor unermeßlich hohem
Besuch der arme Scardanelli. Ein Strom devoter Ansprachen »Eure Hoheit!
Eure Heiligkeit! Eure Eminenz! Eure Majestät!« gurgelt erregt aus den
beflissenen Lippen, und mit erdrückender Höflichkeit geleitet er den Gast
zum ehrfürchtig hingeschobenen Stuhl. Ein wirkliches Gespräch kommt kaum
in Gang, denn der Fahrige und Verwirrte vermag nicht einen Gedanken
festzuhalten und logisch zu entwickeln; je krampfiger er sich bemüht, die
Ideen zu ordnen, um so mehr verknäulen sich ihm die Worte zu einem
dumpfen Sprudeln stammeriger Laute, die nicht mehr der deutschen Sprache
angehören, sondern barocke, phantastische Lautgebilde sind. Einzelne Fragen
versteht er noch mühsam, noch dämmert im verdunkelten Gehirn ein Schatten
von Helligkeit, wenn man Schiller nennt oder sonst eine vergangene Gestalt
anruft. Spricht aber ein Unvorsichtiger den Namen Hölderlins aus, so wird
Scardanelli zornig und losfahrend. Allmählich wird der Kranke im
verlängerten Gespräch unruhig und nervös, weil die Anstrengung des
Denkens und die Qual der Zusammenfassung zu groß ist für sein ermüdetes
Gehirn: so läßt ihn der Besucher, von Bücklingen und Reverenzen erschüttert,
zur Türe begleitet.
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199